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Plurizentrische Sprachen
Es gibt derzeit ungefähr 5000 verschiedene lebende Sprachen. Davon haben etwas mehr als 30 Sprachen einen ganz besonderen Status. Sie sind plurizentrisch. Das heißt, dass es mindestens zwei geografische Gebiete gibt, in denen die dort lebenden Sprecher die Sprache auf unterscheidbare Weise beeinflussen. Es entstehen dann Varietäten dieser Sprachen.
Die Varietäten einer Sprache sind einander so ähnlich, dass es nicht gerechtfertigt ist sie als unterschiedliche Sprachen anzusehen.
Varietäten sind aber auch keine Dialekte. Für die verschiedenen Varietäten gibt es verschiedene Sätze von verbindlichen Grammatik- und Rechtschreibregeln. Für Dialekte gibt es keine Rechtschreibregeln, und die Grammatik eines Dialekts kann von der Grammatik der zugrundeliegenden Hochsprache manchmal weiter abweichen als die Grammatiken zweier Hochsprachen.
Beispiele für Plurizentrik in anderen Sprachen
Englisch
Dass das Wort für »Farbe« in Großbritannien ("colour") anders geschrieben wird als in den USA ("color") wird als Teil des Grundwissens über die englische Sprache angesehen und wird auch an Schulen weltweit so unterrichtet.
Wenn man den Reden von David Cameron und Barack Obama zuhört, wird man deutliche Unterschiede in der Aussprache derselben Wörter wahrnehmen, und trotzdem wird niemand auf die Idee kommen zu behaupten einer von beiden spräche einen Dialekt. Beide Politiker sprechen in perfekter Weise jenes Englisch, das in dem Land das sie jeweils regieren Standard ist. Denn die beiden Staaten verwenden zwei unterschiedliche Varietäten derselben Sprache.
Britisches Englisch und Amerikanisches Englisch nehmen ganz selbstverständlich Seite an Seite gleichrangige Plätze ein. Indisches Englisch, Australisches Englisch und einige weitere englische Varietäten sind in der Wahrnehmung von Laien vielleicht nicht so präsent, stehen aber neben den beiden prominenten Varietäten ebenbürtig auf derselben Stufe.
Spanisch
Dass das Spanisch eines Kubaners anders klingt als das Spanisch eines Argentiniers, und beide wiederum ganz anders als die Muttersprache eines gebürtigen Spaniers, hört man auch wenn man die Sprache gar nicht beherrscht. Spanisch gibt es in mehreren Varietäten, und wer Spanisch als Fremdsprache lernt, wird im Unterricht auf diese Unterschiede hingewiesen.
Portugiesisch
In Brasilien gibt es seit den 1930er-Jahren Bestrebungen das Brasilianische Portugiesisch als eigenständige Sprache (mit dem Namen »Brasilianisch«) neben dem Portugiesischen Portugiesisch zu definieren, um sich noch stärker von der ehemaligen Kolonialmacht abzugrenzen.
Arabisch
In mehr als 1000 Jahren hat sich eine Vielzahl von regionalen arabischen Dialekten entwickelt, die so unterschiedlich sind, dass sich in vielen Fällen die Sprecher zweier verschiedener arabischer Dialekte nicht miteinander verständigen können. In den arabischen und nordafrikanischen Nationalstaaten wurden die jeweiligen ortsansässigen Dialekte zu Amtssprachen vereinheitlicht, wobei als gemeinsame Grundlage die Sprache des Koran großen Einfluss hatte. So entstanden die heute deutlich unterschiedlichen Varietäten der arabischen Sprache.
tote Sprachen
Varietäten gibt es auch in toten Sprachen. Dieselbe lateinische Bibelstelle wird in einem Musikstück beim Singen anders ausgesprochen wenn sie von einem italienischen oder von einem deutschsprachigen Komponisten vertont wurde. Und auch das nur noch in der Liturgie verwendete Kirchenslawisch liegt in fünf verschiedenen Varietäten vor.
Deutsch als plurizentrische Sprache
Wie die obigen Beispiele zeigen, ist Plurizentrik bei Sprachen mit vielen Sprechern eher der Normalfall als die Ausnahme. So darf es nicht verwundern, dass auch Deutsch mit seinen knapp 100 Millionen Muttersprachlern eine plurizentrische Sprache ist.
Zu keiner Zeit in der Vergangenheit und auch nicht in der Gegenwart gab und gibt es ein einheitliches Deutsch, das im gesamten deutschen Sprachraum auf dieselbe Weise geschrieben und gesprochen wurde bzw. wird. Die Frage, ob jedes deutsche Wort überall im deutschen Sprachraum gleich ausgesprochen wird, ist daher mit einem klaren und deutlichen NEIN zu beantworten.
Warum das so ist zeigt Blick in die Vergangenheit:
historische Entwicklung
Die deutsche Sprache hat sich im Zentraleuropa des Frühmittelalters als Folge der zweiten Lautverschiebung als ein weit gefächertes Dialekt-Kontinuum aus den kontinentalwestgermanischen Dialekten entwickelt. Die Alamannen, Bajuwaren, Franken, Friesen, Sachsen und Thüringer hatten miteinander verwandte Stammessprachen, zwischen denen aber zum Teil erhebliche Unterschiede bestanden haben dürften.
Der deutsche Sprachraum war durch das ganze Mittelalter hindurch, bis hinein in die Neuzeit, sehr stark in viele kleine politische Strukturen zersplittert, was eine geografische Durchmischung der Bevölkerung erschwerte und so damit beitrug, dass sich die lokalen Dialekte relativ unabhängig von den Dialekten der Nachbarregionen entwickeln konnten.
Um das Jahr 1200 unternahmen deutschsprachige Dichter den Versuch ihre Werke in einer Sprache zu verfassen, die über die Grenzen eines lokalen Dialekts hinaus verstanden werden konnte. Dieses so entstandene Mittelhochdeutsch war eine künstlich geschaffene Ausgleichssprache, die zwar von so gut wie allen deutschsprachigen Menschen verstanden, aber von niemandem aktiv gesprochen wurde.
Außerdem hatte diese Dichter-Sprache kaum einen Einfluss auf die Sprache des Alltags, weil nur wenige Menschen lesen konnten, und weil es außer der händischen Abschrift noch keine Möglichkeiten gab die Texte zu vervielfältigen.
Im 14. Jahrhundert wurde abermals versucht die deutschen Dialekte unter ein gemeinsames Dach zu bringen, woraus das Frühneuhochdeutsch entstand. Das ist ebenfalls eine Ausgleichssprache, die von niemandem als Muttersprache gesprochen wurde, aber im deutschen Sprachraum gut verständlich war.
Vor allen Matin Luthers Übersetzung der Bibel in diese künstlich geschaffene Sprache und ihre weite Verbreitung durch den Buchdruck waren ganz wichtige Schritte auf dem Weg zu einem vereinheitlichten Deutsch.
Ein weiterer Meilenstein war die Schaffung einer einheitlichen Rechtschreibung durch das Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Konrad Duden veröffentlichte 1880 ebenfalls ein deutsches Wörterbuch, das 1901 zum amtlichen Wörterbuch des deutschen Reiches erhoben wurde und bis 1996 das amtliche Wörterbuch Deutschlands blieb. Trotzdem gab es daneben auch innerhalb des deutschen Reiches noch andere Wörterbücher, die in Verwendung waren, z.B. das »Amtliche Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in preußischen Kanzleien« aus dem Jahr 1903.
Außerhalb des deutschen Reiches bzw. Deutschlands war der Duden zum einen nicht verbindlich, und zum anderen gab er eine Sprache wieder, die in Österreich und der Schweiz nicht verwendet wurde. Daher etablierten sich dort andere Normwerke der deutschen Sprache. In Österreich beispielsweise die »Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis – Ausgabe mit einheitlichen Schreibweisen in Österreich« aus dem Jahr 1904 und ab 1951 das amtliche Regelwerk »Österreichisches Wörterbuch«, das bis heute in der jeweils aktuellsten Auflage in Österreich verbindlich ist.
Besonders die letztgenannten Beispiele zeigen, dass der Versuch die deutsche Sprache zu vereinheitlichen, stark von politischen Grenzen beeinflusst wird. Auf diese Weise entstanden in den Staaten Schweiz, Österreich und Deutschland drei voneinander abweichende Ergebnisse beim Versuch aus regionalen Dialekten eine einheitliche Sprache zu erschaffen, die mit den drei Standardvarietäten der deutschen Sprache identisch sind.
Liechtenstein schloss sich sprachlich der Schweiz an, in Südtirol (in Norditalien) ist österreichisches Deutsch die an Schulen unterrichtete und in Ämtern verwendete Varietät, und in Belgien und Luxemburg sprechen und schreiben die deutschsprachigen Minderheiten deutsches Deutsch.
Abweichung zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache
Die Tatsache, dass Hochdeutsch als Dachsprache geschaffen wurde um eine Vielzahl unterschiedlicher Dialekte zu vereinen, macht auch klar, warum das, was in den amtlichen und pseudo-amtlichen Regelwerken niedergeschrieben ist, kaum irgendwo mit jener Sprache übereinstimmt, die daheim im Wohnzimmer, im Pausenraum einer Schule oder abends in der Kneipe gesprochen wird.
Tatsächlich ist es nämlich so, dass die Mehrheit der Menschen mit Deutsch als Muttersprache zweisprachig ist ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie sprechen im Alltag eine andere Sprache als jene mit der sie schriftlich kommunizieren. Besonders auffällig ist das in der Schweiz.
Schweizerisches (Hoch-)Deutsch und Schweizer Deutsch
Schweizerisches Deutsch ist eine der drei deutschen Standardvarietäten, aber sie existiert nur als reine Schriftsprache. Sogar im Schweizer Fernsehen ist diese Hochsprache nur selten zu hören. In der Schweiz spricht man Schweizer Deutsch. Das ist eine Gruppe alemannischer Dialekte für die es keine genormte Rechtschreibung gibt, weil niemand (von Mundartautoren abgesehen) diese Sprache zum Schreiben benutzt.
Die Schweizer Zeitungen werden aber in Schweizerischem Deutsch gedruckt. Diese Sprache wurde eigentlich im Zuge der Vereinheitlichung der deutschen Sprache aus Deutschland und seinen Vorgängerstaaten importiert und ist daher dem deutschem Deutsch sehr ähnlich. Die auffallendste Abweichung: Das Schweizerische Deutsch kennt kein »ß«. Aber niemand benutzt diese Sprache zum Sprechen. Sogar Politiker und die meisten Nachrichtensprecher sprechen stattdessen Schweizer Deutsch.
Geografische Aussprache-Grenzen und Landesgrenzen
Die geografischen Grenzen der drei deutschen Standardvarietäten entsprechen genau den Grenzen der Nationalstaaten wenn man von Gebieten wie Südtirol und Luxemburg absieht. Jedoch sind diese drei Varietäten Ausprägungen der Schriftsprache, nicht der gesprochenen Sprache. Die Grammatik- und Rechtschreibregeln dieser Varietäten legen die Aussprache der Wörter nicht fest, sondern lassen sie völlig offen.
Wer etwas aus einem Buch oder einer Zeitung vorliest, muss selbst entscheiden wie welches Wort ausgesprochen wird, und dabei greift jeder Vorleser auf seinen eigenen Erfahrungsschatz zurück und damit auch auf die Laute die in dem lokalem Dialekt vorrätig sind, den der Sprecher spricht.
Wenn ein Sprecher einen Dialekt spricht, in dem kein stimmhaftes s existiert, wie das bei den oberdeutschen Dialekten der Fall ist (südlich der ungefähren Linie Straßburg-Stuttgart-Nürnberg-Plauen), dann wird er auch dann, wenn er »nach der Schrift« spricht, kein stimmhaftes s verwenden. In diesem Gebiet liegen aber jeweils vollständig die Staaten Schweiz und Österreich, so dass es in der Aussprache von Schweizerischem und Österreichischem Deutsch kein stimmhaftes s gibt.
Dieses völlige Fehlen eines stimmhaften s in Österreich und in der Schweiz ist aber KEINE Eigenschaft der jeweiligen Standardvarietät, sondern eine Folge der dort gesprochenen Dialekte.
Das stimmhafte s wird nämlich auch im Süden Deutschlands durch die stimmlose Variante ersetzt. Die »Wiese« wird von professionellen Nachrichtensprechern des Bayerischen Rundfunks ebenso wie von Sprechern des ORF mit einem stimmlosen s gesprochen, während deutschsprachige Sendeanstalten nördlich des »Weißwurst-Äquators« ein stimmhaftes s von ihren Sprechern verlangen.
Die Aussprache der gemeinsamen Dachsprache Deutsch wird also im gesamten deutschen Sprachraum sehr stark von der Aussprache der lokalen und regionalen Dialekte geprägt. Jedoch gibt es keine einzige Dialektgrenze, die mit einer Staatengrenze übereinstimmt.
Zusammenfassung
- Es muss zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache unterschieden werden.
- Standardisiertes Hochdeutsch ist das Ergebnis des Versuchs eine gemeinsame Dachsprache für die Vielzahl von deutschen Dialekten zu finden.
- Standardisiertes Hochdeutsch ist eine Schriftsprache, die meist nur bei offiziellen Anlässen (öffentlichen Reden) auch als gesprochene Sprache eingesetzt wird.
- Die Standardisierung der deutschen (Schrift-)Sprache führte in der Schweiz, in Österreich und im deutschen Reich (später »Deutschland«) zu drei ähnlichen, aber dennoch unterschiedlichen Standards, die heute die drei Standardvarietäten der deutschen Sprache bilden.
- Die Muttersprache fast aller Menschen mit Deutsch als Muttersprache ist nicht Hochdeutsch, sondern ein deutscher Dialekt.
- Die Aussprache von Hochdeutsch ist nirgendwo genormt. In der Praxis folgt die Aussprache der Schriftsprache »Hochdeutsch« den Gepflogenheiten die für den jeweiligen lokalen Dialekt üblich sind. Insbesondere werden für die Aussprache von Hochdeutsch nur jene Laute (fachsprachlich: »Phone«) verwendet, die im Repertoire des jeweiligen Dialekts enthalten sind.
- Die geografischen Grenzen zwischen unterschiedlichen Dialekten stimmen mit keiner einzigen Staatengrenze überein. Folglich lassen sich Variationen in der Aussprache NICHT an Staatengrenzen festmachen. Ebensowenig haben die drei Standardvarietäten einen Einfluss auf die Aussprache von Hochdeutsch.
- Es ist nicht zulässig eine bestimmte der vielen Aussprache-Varietäten herauszugreifen und sie als die einzig richtige Art Deutsch zu sprechen gegenüber den anderen Aussprache-Varietäten hervorzuheben.