In der Sprachgeschichte des Deutschen gab es (mindestens) drei verschiedene Phänomene, bei denen ein stimmhafter s-Laut entstehen konnte:
- Durch Assimilierung an einen anderen stimmhaften Konsonanten im Indogermanischen
- Durch das Vernersche Gesetz beim Übergang vom Indogermanischen zum Germanischen
- Durch die sogenannte Spirantenschwächung zu althochdeutscher Zeit
Ein Großteil der neuhochdeutschen stimmhaften s-Laute geht auf den letzten Punkt, die Spirantenschwächung, zurück.
(zu 1.) Bereits im Indogermanischen gab es ein stimmhaftes s, das jedoch nur vor anderen stimmhaften Konsonanten als Assimilierung auftrat (idg. *nizdos aus *nisdos, nhd. Nest). Es kann ausgeschlossen werden, dass es sich beim neuhochdeutschen stimmhaften s um diesen ererbten Laut handelt, weil es im Neuhochdeutschen hauptsächlich im Wortinneren zwischen Vokalen und am Wortanfang vor Vokalen auftritt.
(zu 2.) Die Erste Lautverschiebung markiert den Übergang vom Indogermanischen zum Germanischen; bei ihr spielen das Grimmsche und das Vernersche Gesetz eine Rolle:
Bei der Ersten Lautverschiebung wurden stimmlose Plosive zu Frikativen (dies ist ein Teil des Grimmschen Gesetzes). Zu diesem Lautwandel zählen:
- idg. p wird zu germ. f
- idg. t wird zu germ. þ (stimmloser th-Laut wie in engl. thin)
- idg. k wird zu germ. χ (stimmloser ch-Laut wie in nhd. ach)
Damit hatte das Germanische vier Frikative: f, þ, χ und ererbtes s.
Dem Grimmschen Gesetz folgt das Vernersche Gesetz: Abhängig von der Wortbetonung und der Position der Frikative blieben sie entweder stimmlos oder wurden stimmhaft; die stimmhaften Frikative entwickelten sich teilweise weiter zu stimmhaften Plosiven:
- germ. f bleibt f oder wird β (das zu b wird)
- germ. þ bleibt þ oder wird ð (das zu d und später zu t wird)
- germ. χ bleibt χ oder wird ɣ (das zu g wird)
- germ. s bleibt s oder wird z (das teilweise zu r wird)
Im Satz "bleibt x oder wird y" nenne ich im Folgenden x die stimmlose Verner-Variante und y die stimmhafte Verner-Variante.
Mit z ist hier der stimmhafte s-Laut gemeint. Das stimmhafte s in Hase kommt zum Beispiel von diesem Lautwandel. Viele stimmhaften s haben sich aber gewandelt zu einem r-Laut, z. B. in engl. hare. Deshalb können nicht alle stimmhaften s-Laute durch diesen Prozess erklärt werden: Teilweise kommen auch im gleichen Flexionsparadigma Formen mit beiden Verner-Varianten vor (Grammatischer Wechsel), z. B. in sie waren vs. gewesen. Das r in waren entstand aus der stimmhaften Verner-Variante, das s in gewesen kommt von der stimmlosen Verner-Variante. Nun wird heute das s in gewesen stimmhaft ausgesprochen, was alleine durch das Vernersche Gesetz nicht erklärt werden kann.
Des Weiteren kann das Vernersche Gesetz nicht das stimmhafte s am Wortanfang erklären: Hätte am Wortanfang die stimmhafte Verner-Variante gestanden, so hätten wir heute nicht das Wort Vater (kommt von germ. f), sondern Bater; und wir hätten nicht das Wort Hund (kommt von germ. χ), sondern Gund. Somit stand am Wortanfang die stimmlose Verner-Variante und damit auch stimmloses s. Stimmhaftes s am Wortanfang kann also nicht durch Verner erklärt werden.
(zu 3.) Der Großteil der heutigen stimmhaften s-Laute geht auf die sogenannte Spirantenschwächung zurück, die von verschiedenen Autoren verschiedentlich datiert wird: Damaris Nübling (Historische Sprachwissenschaft des Deutschen) legt die Spirantenschwächung ins Spätalthochdeutsche; Martin Findell (Phonological Evidence from the Continental Runic Inscriptions) stellt die Spirantenschwächung in den Nordwestgermanischen Tochtersprachen fest, z. B. im Althochdeutschen und Altsächsischen; Stefan Sonderegger (Althochdeutsche Sprache und Literatur) datiert den Prozess auf das Frühalthochdeutsche.
Die Spirantenschwächung betrifft die stimmlosen Frikative, die durch Verner nicht stimmhaft wurden, also f, þ, χ und s. Der th-Laut þ wurde im Althochdeutschen in den allermeisten Positionen zu einem d; man kann annehmen, dass ein Zwischenschritt über ein stimmhaftes ð wie in engl. this führte. Der ch-Laut χ wurde am Wortanfang vor Vokalen und im Wortinneren zwischen Vokalen zu einem h. Der f-Laut wurde am Wortanfang und zwischen Vokalen zu einem v-Laut, was sich noch heute an vielen deutschen Wörtern zeigt, die von einem germanischen f abstammen und mit v geschrieben werden (Vater, Vogel, ver-, Vieh, vier...). Bei diesem Prozess wurden also die stimmlosen Frikative am Wortanfang und zwischen Vokalen "geschwächt". Bei f und þ schlägt sich diese Schwächung in einer Stimmhaftwerdung nieder; bei χ wird der Reibelaut zu einem schwächeren Hauchlaut h. Leider hat sich die Spirantenschwächung nicht in der Schreibung von s niedergeschlagen, es ist aber anzunehmen, dass in ähnlichen Positionen das s ebenfalls "geschwächt" - also stimmhaft - wurde.
Die Spirantenschwächung im Überblick:
- ahd. f wird teilweise geschwächt zu v
- ahd. þ wird geschwächt zu d
- ahd. χ wird teilweise geschwächt zu h
- ahd. s (stimmlos) wird teilweise geschwächt zu s (stimmhaft)