Wie ich bereits in einer anderen Frage erwähnt habe, lese ich gerade das Buch Denksport Deutsch von Daniel Scholten. Der erste Abschnitt, der rund 40 % des Buches ausmacht, ist dem unlogisch erscheinenden Genus-System der deutschen Sprache gewidmet. Scholten erklärt darin, wie in der protoindoeuropäischen Sprache (die er konsequent »Urindogermanisch« nennt) die drei Geschlechter entstanden sind, die sich heute in Deutsch und anderen daraus entstandenen Sprachen wiederfinden.
Zu dieser Hypothese habe ich eine Frage, doch dazu muss ich erst diese Hypothese zumindest in den wesentlichen Punkten wiedergeben:
Die Hypothese
(stark gekürzt, simplifiziert und ohne Erwähnung von Ausnahmen)
Scholten springt von der Sprache der Hethiter zu Gotisch, Anatolisch, Vedisch, dann wieder zu Englisch, Latein, Altgriechisch und zwischendurch immer wieder zu Protoindoeuropäisch, und leitet dabei sehr plausibel her, dass das Geschlecht, das wir heute »männlich« nennen, die Urform aller Geschlechter ist.
Das heute »sächlich« genannte Geschlecht (obwohl »die Sache« selbst gar nicht sächlich ist) spaltete sich zuerst ab, nämlich als Bezeichnung von Tätigkeiten, oder als Bezeichnung für die Ergebnisse von Tätigkeiten (das Pferdegeschirr als Resultat von anschirren).
Eine besondere Pluralform, die man im Deutschen noch immer findet (Wörter-Worte, Männer-Mann (alle Mann an Bord), Länder-Lande), die aber mit einem Singular-Verb verwendet wurde (z.B. griechisch: πάντα ῥεῖ (panta rhei) = eigentlich die Gesamten fließt) war dann der Ursprung des Geschlechts, das heute »weiblich« genannt wird.
Das klingt alles sehr plausibel und glaubhaft. Insbesondere hat mich Scholten in einer in mir schon viel früher herangereiften Überzeugung bestärkt: Die Bezeichnungen »männlich«, »weiblich« und »sächlich« sind Unsinn und stiften nur Verwirrung weil sie falsche Annahmen implizieren.
So weit, so gut.
Scholten behauptet aber, dass derselbe Mechanismus, der vor mehreren Jahrtausenden die grammatischen Geschlechter entstehen ließ, noch heute unbewusst in unseren Köpfen wirkt, wenn wir Substantive aus fremden Sprachen ins Deutsche importieren. Er nennt dabei zwei Beispiele:
Beispiel 1: Blog
Das Wort wurde im Englischen erfunden. Weil es keine Person und auch nichts personenartiges bezeichnet, wird im Englischen mit der sächlichen Präposition it darauf referenziert:
Tom created a blog. I read it.
Das verleitete laut Scholten viele dazu, das vermeintlich sächliche Geschlecht auch in der deutschen Sprache zu verwenden: das Blog.
Das war aber seiner Meinung nach eine Kopfgeburt und im Grunde fehlerhaft, weil im Englischen nur Pronomen ein Geschlecht haben, Nomen aber nicht. Es kann im Englischen daher auch keine grammatische Kongruenz zwischen dem grammatischen Geschlecht eines Pronomens und dem eines Nomens geben. Aus der Tatsache, dass man im Englischen mit einem Pronomen eines bestimmten Geschlechts auf ein bestimmtes Nomen verweist, kann man keinen Schluss auf das grammatische Geschlecht des Nomens ziehen.
Der in unseren Sprachzentren verortete Mechanismus, der abseits der bewussten Wahrnehmung arbeitet, fragt laut Scholten, ob man dem Wort an sich irgend eine Bedeutung ansehen kann, oder auch ob es den Anschein erweckt, von etwas bereits bekannten abgeleitet zu sein.
Im Fall von the meeting erkennt das Sprechzentrum: »Das ist von einer Tätigkeit, nämlich von sich treffen abgeleitet, und als Tätigkeitsbezeichnung daher sächlich.« Und so ist dieses Substantiv im Deutschen auch tatsächlich sächlich: das Meeting.
Im Fall von the blog findet das Sprachzentrum aber keinen Hinweis auf irgend eine Bedeutung, die sich direkt aus dem Wort allein ableiten lässt. Es kann nicht als Tätigkeitsbezeichnung und nicht als Abstraktion von irgend etwas anderem identifiziert werden. Daher gilt der Default-Fall, und das heißt: männlich. Also der Blog.
Aus diesem Grund (fehlerhafte Herleitung aus dem Englischen vs. unbewusster Mechanismus des Sprachzentrums) wird Blog heute beiden Geschlechtern zugeordnet:
das Blog
der Blog
Beispiel 2: Joghurt
Scholten führt das Wort »Joghurt« als weiteres Beispiel an. Die türkische Sprache kennt keine grammatischen Geschlechter, und als das türkische Wort yoğurt seinen Weg in den deutschen Wortschatz antrat, gab es absolut keine Anhaltspunkte für ein grammatisches Geschlecht. Der von Scholten postulierte Mechanismus klopft das Wort ab, findet nichts woraus sich andere Geschlechter ergeben könnten, und spuckt den Defaultwert »männlich« aus:
der Joghurt.
Für einen Piefke durchaus plausibel. Das Problem ist aber: Die Ösis (und möglicherweise auch Bayern, dazu kann ich leider nichts sagen) sagen aber trotzdem:
das Joghurt.
Während einige Wörter zumindest in Österreich sowohl männlich als auch sächlich sein können (der/das Radio) gehört Joghurt zu den Wörtern, die in Österreich ausschließlich sächlich sind. Die männliche Variante wird in Österreich als falsch empfunden. Ein anderes Wort, auf das dasselbe zutrifft, ist:
das Keks.
(importiert aus dem englischen Plural von cake: cakes)
Anekdote:
Der deutsche Joghurt-Hersteller Danone hat vor einiger Zeit eine Fernsehwerbung für sein Produkt Activia ausgestrahlt, in der folgende Handlung gezeigt wurde:
Vor einem Kühlregal mit Activia-Joghurt steht ein attraktiver junger Mann. Etwas entfernt davon stehen zwei junge Frauen und schauen zu dem Mann vor dem Jughurtregal. Eine der beiden Frauen sagt dann: »Den hole ich mir jetzt«, geht auf den Mann zu, an ihm vorbei und nimmt ein Joghurt aus dem Regal.
Dieser Werbespot spielt mit der Attraktivität des Mannes und des Joghurts, funktioniert aber nur, wenn Joghurt tatsächlich männlich ist. In Österreich hat dieser Werbespot nicht funktioniert. Er rief nur verständnisloses Kopfschütteln hervor.
Wie der Spot auf Österreicher gewirkt hat, kann man nachvollziehen, indem man Joghurt durch Eis (Speiseeis) ersetzt: Die Frau sagt: »Den hole ich mir jetzt«, geht auf den Mann zu, an ihm vorbei und nimmt ein Eis aus dem Regal.
Als Danone auf den Fehler aufmerksam gemacht wurde, hat man aus dem Spot den erwähnten Satz herausgeschnitten, was den Spot aber gänzlich unbrauchbar gemacht hat. Dann wurde er (zumindest in Österreich) ganz abgesetzt.
Was ich nun wissen möchte:
Sind die österreichischen sächlichen Version von Joghurt und Keks Beweise dafür, dass sich Scholten nicht nur bei einem einzelnen Wort (der/das Joghurt) irrt, sondern dass er ganz grundsätzlich falsch liegt?
Falls die Hypothese grundsätzlich und im Großen und Ganzen korrekt ist: Was könnte die Ursache dafür sein, dass Joghurt und Keks in Österreich (und möglicherweise auch in Bayern) sächlich sind, während beide Wörter nördlich davon männlich sind?
Und dann würde ich gerne wissen, warum das bei den Wörtern Gummi und Schlüsselbund genau umgekehrt ist:
In Österreich: der Gummi, der Schlüsselbund
In Deutschland: das Gummi, das Schlüsselbund
(Ob Bayern sich in dieser Sache österreichisch oder deutsch verhält, weiß ich nicht)
(Zu Schlüsselbund: Ich ging bis gestern davon aus, dass dieses Wort auch in Deutschland männlich ist. Aber in Scholtens Buch kommt auch dieses Wort vor, und wird dort - sehr zu meinem Befremden - ganz selbstverständlich als sächliches Wort verwendet: »Der Lehrer warf dem Schüler das Schlüsselbund an den Kopf«)
Nachtrag (Reaktion auf Kommentare):
zu Bund:
In Österreich ist der Bund eine ganz offizielle Bezeichnung für die Vereinigung der neun Bundesländer. Es gibt z.B. Straßen, die von jeweils einem Land erhalten werden (die Landesstraßen) und Straßen, für deren Erhaltung der Bund sorgt (Bundesstraßen).
Auch der obere Abschluss einer Hose ist männlich: Der Hosenbund.
Es gibt aber auch in Österreich das Bund Petersilie.
Daher habe ich eben nicht einfach nur Bund, sondern ausdrücklich Schlüsselbund geschrieben. Der ist in Österreich nämlich ganz klar männlich: Der Schlüsselbund.
zu Gummi:
Das Synonym für das Kondom ist (zumindest in Österreich) ebenso männlich wie das dehnbare Band im Hosenbund, das die Hose am Körper hält: Der Gummi. Auch der Radiergummi ist genau so männlich und der Gummi aus dem Reifen bestehen.