Um die Sache zu erleichtern, gebe ich hier mal das Gedicht in seinem originalen (?) Umbruch wieder (oder was man so findet im Internet, ein Buch habe ich grade nicht zur Hand.)
Du im Voraus
verlorne Geliebte, Nimmergekommene,
nicht weiß ich, welche Töne dir lieb sind.
Nicht mehr versuch ich, dich, wenn das Kommende wogt,
zu erkennen. Alle die großen
Bilder in mir, im Fernen erfahrene Landschaft,
Städte und Türme und Brücken und un-
vermutete Wendung der Wege
und das Gewaltige jener von Göttern
einst durchwachsenen Länder:
steigt zur Bedeutung in mir
deiner, Entgehende, an.
Ach, die Gärten bist du,
ach, ich sah sie mit solcher
Hoffnung. Ein offenes Fenster
im Landhaus - , und du tratest beinahe
mir nachdenklich heran. Gassen fand ich, -
du warst sie gerade gegangen,
und die Spiegel manchmal der Läden der Händler
waren noch schwindlich von dir und gaben erschrocken
mein zu plötzliches Bild. - Wer weiß, ob derselbe
Vogel nicht hinklang durch uns
gestern, einzeln, im Abend?
1) Deiner
Für mich gehört "deiner" zu "Bedeutung", also "steigt zur Bedeutung deiner in mir an". Was man weniger poetisch wohl mit "verdichten sich zu dem, was du für mich bedeutest" wiedergeben könnte.
2) Steigt
Mein Eindruck ist, dass mit "steigen" statt "steigt" das Gedicht nicht schlechter wäre. Oder einen Satzfehler weniger hätte.
Sollte es sich also wirklich um einen Satzfehler handeln?
(Dies zu erraten, oh Leser, bräuchte es nun einen Gang in die Halle der Bücher, wo, Seiten, bedruckte, ihr stehet und wartet auf die euch greifende Hand. Denn nur auf gelbem Papier sagt uns die Schwärze des Druckers, was wohl dem Dichter im Sinn stand, gab er die Verse in Satz.)
Beim mehrmaligen Lesen ertappe ich mich dabei, dass das "Alle die großen Bilder...", in Verbindung mit der Aufzählung von allerlei Dingen und Eindrücken, bei mir zu einem großen Brei von "alles" verschwimmt. Vielleicht ging es Rilke (oder dem Sprachzentrum seines Hirns) auch so, und darum hat er unten, verloren habend den Faden, den roten, "steigt" geschrieben?
Rhythmisch finde ich "steigt" übrigens deutlich besser. Auch dies mag noch dazu beigetragen haben, dass Rilke (oder war es am Ende nur der Setzer?) am Satzende den Numerus verwechselt hat.
Behelfsmäßig könnte man noch versuchen, nach "Wege" das Fehlen eines Kommas zu unterstellen. Dann ließe sich "steigt" nur auf "das Gewaltige" beziehen. Inhaltlich wird der Sinn aber nicht besser, eher schlechter.
3) Was dachten andere?
Vielleicht hilft es auch, zu sehen, wie andere mit dem Problem umgegangen sind. In einer englischen Übersetzung (von Rosenthal) finden wir:
You from the outset
Lost Beloved, my Never-Arrived,
I’ve no idea, none, what tones are dear to you.
No longer do I hope, when the moment wells up,
To recognize you. All the vast
Scenes inside me, so far off, so familiar,
Cities and towers and bridges and un-
Foreseen winding of ways
And that stormy world where gods
Once strode through the lands:
All this within me presses toward one meaning:
You, vanishing.
Übersetzer Rosenthal hat also "steigen" (Plural) gelesen.
Und weil die Komparatistik so erkenntnisbringend ist, hier noch die gleiche Strophe auf Ungarisch von Hajnal Gábor:
Te, már előre
elvesztett Kedves, Soha-Elnemjövő,
nem tudom, milyen hang kedves tenéked.
Már meg se kisérlem, ha forrong az eljövendő,
hogy felismerjelek. Mind a
nagy képek bennem, a messzi megismert tájban,
városok és tornyok és hidak és el-
kanyarodó nemvárt utcák
és a nagysága ama egykoron
istenekkel benőtt országoknak:
mindez a Te jelentéseddé
tágul bennem, Menekülő.
Meine Versuche, festzustellen, ob hier Plural oder Singular verstanden wurden, halten noch an... sollte ein fähiger Finnougrist des Weges kommen, so reiche er seine Hand uns zur Hilfe! Ich kann aber hier festhalten, dass auch in der ungarischen Version "deine" sich auf "Bedeutung" (jelentés) bezieht. (Eine grobe Übersetzung der letzten zwei Zeilen wäre wohl: "All das zu deiner Bedeutung es dehnt sich zu mir aus, Flucht.")
Rilke, Die Gedichte. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1986. 1906 bis 1926. Vollendetes