Der Infinitiv kann in vielen Sprachen den Imperativ ersetzen, z.B. im Spanischen. (No fumar = nicht rauchen.) Es erscheint mir ziemlich offensichtlich, wie es dazu kommt:
Hier muss man die Einfahrt freihalten.
Oder in Sprachen, die kein passendes Äquivalent zum unpersönlichen man haben, vielleicht auch:
Wer in dieser Straße parken will, muss die Einfahrt freihalten.
Bei Schildern (und idealerweise auch bei Dialogen in Computer-Anwendungen und Betriebssystemen) wird aber aller Ballast abgeworfen bis nur noch die Kernaussage übrigbleibt. Und das ist dann eben beispielsweise "Einfahrt freihalten", "Rasen nicht betreten", "Nichts aus dem Fenster werfen". Manchmal ist auch der Infinitiv selbst entbehrlich: "Bitte Ruhe!". Oder aus anderem Grund bleibt nur eine Nominalphrase übrig (die man nicht sinnvoll durch einen Infinitiv ergänzen könnte): "Kein Eingang".
Dasselbe Prinzip wie für Schilder gilt auch für gesprochene Befehle. Bei militärischen Kommandos gilt wohl im Prinzip auch dasselbe.
Wie John Smithers schon durch Beispiele gezeigt hat, wird durchaus auch nicht nur der Infinitiv in dieser Funktion verwendet. Einige seiner Beispiele sind ganze Sätze, die wohl für sich sprechen. Die anderen kann man zu ganzen Sätzen ergänzen, die einerseits zeigen, wo die Kurzform herkommt, und andererseits verdeutlichen, wie nützlich die Verkürzung ist:
Du musst jetzt das Zimmer aufräumen!
Ich benötige Hilfe! Ich brauche jemanden, der mir zu Hilfe kommt!
Jetzt wird stillgestanden!
Der interessanteste als Imperativ gebrauchte Infinitiv, den ich bisher gesehen habe, ist auf Schildern an der Straße durch den schweizerischen Nationalpark Ofenpass zu lesen. In der Gegend wird nämlich noch Rätoromanisch gesprochen, eine romanische Sprache mit weitgehend schweizerdeutscher Phonologie und Orthographie. Wer ein bisschen Französisch kann, sollte es entziffern können:
Non fär fö!
Auflösung:
In französischer Schreibung: non faire feu = nein (d.h. nicht) machen Feuer.