Gute Kunstwerke können auf vielen Ebenen genossen werden.
Man kann in eine Faust-Vorstellung gehen und sich einfach über das amüsante Spektakel freuen mit den schrillen Hexen und dem lustigen Pudel und so weiter. Man kann sich auch, mit entsprechender Vorbildung, an der Wortkunst mit den pfiffigen Reimen freuen oder auch an der Stimmgewalt der Schauspieler (ohne überhaupt weiter auf den Sinn zu achten). Mit noch mehr Vorbildung und Belesenheit kann man auch den mehr oder weniger tiefsinnigen philosophischen Erwägungen folgen, die Goethe da hineingezwirbelt hat, und man kann sich freuen, wenn man Zitate und Anspielungen auf andere Werke der (v.a.) deutschen Literatur erkennt.
Es geht in keinem Fall darum, den "Sinn" zu verstehen. Der "Sinn" eines Textes ist kein Fixum, das der Autor ein für allemal dem Text eingebaut hat. Vielmehr ergibt sich beim Konsumenten des Sprachkunstwerks bei jedem Konsumakt (sprich: Lesen, Theaterbesuch) ein Sinn aufs Neue, und dieser hängt vollkommen ab von der gegenwärtigen Situation des Konsumenten: Lebenslage, Stimmung, Vorbildung: Ist er gerade hungrig? Ist ihm die Freundin weggelaufen? Hat er ein eigenes Gretchen im Auge, das er gerne bürsteln möchte, doch sie lässt ihn nicht? Ist er Theologe, Mediziner oder Physiker? Oder ist er ein Mädchen vom Lande, das sich wundert, ob es mit dem spinnerten Typ von der Uni ausgehen soll, und was will der eigentlich von ihr, und was macht der Hund dabei? Hat er als Automobilindustriemanager gerade eine illegale Abgassteuerung durchgewunken und damit seine Seele verkauft? In jeder dieser Situationen wird er in einem vielschichtigen Kunstwerk wie dem "Faust" Dinge finden, die ihn gerade ansprechen, und er wird vielleicht meinen, dass der Autor beim Schreiben genau an ihn gedacht hat. Das hat dieser zwar nicht, aber in der breiten Anwend- und Auslegbarkeit des Textes liegt seine Stärke und der Grund, warum er auch nach Jahrhunderten noch taugt.
Die Frage, ob Bauern und Adlige, Handwerker und Beamte, Bettler und Gelehrte den "Faust" seinerzeit "verstanden" haben, stellt sich darum für mich nicht. Wer immer in eine Vorführung gegangen ist (zeittypisch vermutlich mitsamt Picknickkorb), hat seinen eigenen Sinn daraus gezogen.
Man kann allerdings annehmen, dass im allgemeinen ein gewisses Grundverständnis der Kern-Story relativ verbreitet war, weil Goethes "Faust" ja auch nur die überkomplizierte x-te Variation einer damals als Volkserzählung recht populären Gruselgeschichte war.