Dieses Phänomen ist deutlich älter und wurde von mir bereits vor rund 50 Jahren beobachtet, und zwar noch weiter im Süden als von dir bemerkt:
Ich wurde 1965 in Graz (Hauptstatt der Steiermark im Südosten Österreichs) geboren, und wurde in den 1970er-Jahren von manchen Erwachsenen dafür gescholten, Sätze wie »Darf ich noch ein Eis?« gebildet zu haben.
Ich glaube auch, dass die Urheber solcher Konstruktionen hauptsächlich Kinder sind, die mit Hilfe von Analogien dabei sind, sich die Grammatik der deutschen Sprache anzueignen, und das - wie ich vermute - im ganzen deutschen Sprachraum, ohne großartige geographische Unterschiede. Dass es dann auch Erwachsene gibt, die ebenfalls solche Sätze bilden, ist dann keine große Überraschung.
Mehr als eine These habe ich zwar auch nicht anzubieten, aber vielleicht finden sie andere auch schlüssig:
Die deutsche Modalverben haben nicht nur die Eigenschaft, Notwendigkeiten und Möglichkeiten auszudrücken, sondern sie können auch wie Bewegungsverben verwendet werden:
Ich soll morgen zum Chef.
Lisa will in den Garten.
Hier dürfen nur Mitarbeiter hinein.
Bei der nächsten Weggabelung müssen Sie nach links.
Ich möchte endlich nach Hause.
In jedem dieser Sätze gibt es außer einem Modalverb kein anderes Verb, und trotzdem empfinden fast alle deutschen Muttersprachler diese Sätze als vollständig.
Es gibt aber auch andere Konstruktionen, in denen das Modalverb ohne zusätzliches Vollverb existieren kann:
Hans kann ziemlich gut Latein.
Das darfst du nicht.
Ich will genau dieses Brötchen und nicht das dahinter.
Als Kind begreift man in einem bestimmten Stadium des Spracherwerbs vielleicht noch nicht, dass diese Verwendung von Modalverben als Vollverben an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Und es ist tatsächlich auch schwierig zu begründen, wo in der folgenden Reihe der Punkt ist, an dem aus einer akzeptierten Konstruktion eine Konstruktion wird, die man als unvollständig empfindet, und warum es diesen Punkt überhaupt gibt:
Ich will das nicht.
Ich will diesen Brötchen.
Ich will ein Eis.
Darf ich ein Eis?
In allen vier Sätzen kann ein zusätzliches Vollverb nicht schaden:
Ich will das nicht machen.
Ich will diesen Brötchen kaufen.
Ich will ein Eis essen.
Darf ich ein Eis essen?
Aber warum das zusätzliche Vollverb bei »Darf ich ein Eis?« dringlicher herbeigesehnt wird als bei »Ich will das nicht«, ist nicht so einfach festzustellen. Und daher ist es auch kein Wunder, dass verschiedene Personen die Grenze zwischen notwendig und überflüssig an unterschiedlichen Stellen wahrnehmen und ihre Sätze dann auch entsprechend bilden.