Die festgeschriebenen Regeln einer Sprache geben nicht vor, wie die Sprecher dieser Sprache zu sprechen haben.
Diese Regeln sind wertvoll, wenn man eine Sprache erlernen will (für jemanden, der Deutsch als Fremdsprache lernt, aber auch für Kinder in der Schule). Aber diese Regeln diktieren nicht, wie jemand, der die Sprache schon gut beherrscht, zu sprechen hat. Anders (weil zutreffender) formuliert: Die Muttersprachler lassen sich durch Regeln in irgendwelchen Büchern nicht vorschrieben, wie sie zu reden haben.
Die Umkehrung trifft nämlich zu: Der tatsächliche Gebrauch der Sprache bestimmt, was richtig und was falsch ist, und bestimmt somit, welche Regeln zu formulieren sind.
Die Sprecher sprechen so, wie sie eben immer sprechen, und machen dabei kleine, mittlere und große Fehler (»Fehler« im Sinn von: »Abweichung von einer festgeschriebenen Regel«). Wenn ein kleiner oder mittlerer Fehler zu keiner Einbuße in der Verständlichkeit führt, wird er vom Empfänger so gut wie nie korrigiert, aber der Empfänger hört eben eine neue Variante, die er genau so gut versteht, und wenn er diese neue Variante nur oft genug hört, wird er sie möglicherweise selbst auch für tauglich halten und aktiv verwenden.
Manchmal pflanzt sich eine falsche Variante sogar wesentlich rascher und nachdrücklicher fort als die richtige, und dann verdrängt die eigentlich falsche Version die richtige Version komplett, wie das gerade gegenwärtig bei der Aussprache des Wortes »Gluten« (»glutenfrei«) passiert.
Dieses Einzahlwort (das Gluten, die Glutene) (eine Eiweißart vor allem in Weizen, die beim Brotbacken bewirkt, dass das Brot nicht bröselig, sondern klebrig wird) sollte eigentlich mit einem kurzen unbetonten u und einem langen und betonten e in der zweiten Silbe ausgesprochen werden ([ɡluˈteːn]), vergleichbar mit der Aussprache vieler anderer zweisilbriger Chemikalien (Benzin, Menthol, Propan, Arsen), die alle auf der langgezogenen Endsilbe betont werden.
Tatsächlich sprechen es aber fast alle (sogar die meisten Nachrichtensprecher) das Wort so aus, als wäre es die Mehrzahl des Wortes Glut (etwas, das so heiß ist, dass es leuchtet) (eine Glut, mehrere Gluten [ɡluːtn̩]).
Ich möchte die Situation auch mit »gewinkt« und »gewunken« im Österreichischen Deutsch vergleichen:
Lange, nachdem der Zug abgefahren war, hat Elke ihm noch immer nachgewinkt.
Lange, nachdem der Zug abgefahren war, hat Elke ihm noch immer nachgewunken.
Im Österreichischen Deutsch sind beide Varianten schon seit Jahrzehnten Teil der standardisierten Hochsprache, also beide vollkommen korrekt und gleichwertig. Der zweite Satz wird in Österreich (z.B. in einer Schule in Schärding) in einem Schulaufsatz als ebenso richtig bewertet wie der erste. Im Deutschen Deutsch ist nur der erste Satz richtig, der zweite ist falsch und wird in einem Schulaufsatz (z.B. in Passau, nur 10 km von Schärding entfernt) korrigiert, und das, obwohl links und rechts vom Inn dieselbe Umgangssprache gesprochen wird.
In beiden Ländern (auch weit weg von Schärding und Passau) wird »gewunken« in der Umgangssprache verwendet. Der wesentliche Unterschied ist, dass »gewinkt« in den meisten Gebieten Deutschlands häufiger als »gewunken« verwendet wird, während es in Österreich genau umgekehrt ist. Hierzulande würde so gut wie niemand »gewinkt« sagen, daher gilt »gewunken« in Österreich als völlig richtig. »Gewinkt« wird in Österreich eigentlich nur deswegen als korrekt angesehen, weil generell Deutsches Deutsch in Österreich fast immer als richtig gilt, auch dann, wenn im Fall von Unterschieden die deutsche Variante keine praktische Anwendung erfährt.
Der Status von »gewunken« im Österreichischen Deutsch ist ein ganz typisches Beispiel dafür, dass der tatsächliche Gebrauch der Sprache darüber bestimmt, was richtig und was falsch ist.
Im Fall von »wohlgesonnen« wird der Duden wohl irgendwann denselben Schritt gehen, denn das ÖWB (Österreichisches Wörterbuch, das ist das amtliche Regelwerk für Österreichisches Deutsch) im Fall von »gewunken« schon vor Jahrzehnten gegangen ist: Der Status des Wortes wird von »umgangssprachlich« auf »standardsprachlich« geändert werden.
Vermutlich wird irgendwann auch die weitaus häufigere (aber jetzt noch als falsch geltende) Aussprache von »Gluten« offiziell als richtig akzeptiert.