Die Frage, warum in dieser einen Sprache diese eine spezielle Regel gilt, in einer anderen aber nicht, ist müßig. Die ebenso wahre wie unbefriedigende Antwort ist:
- Weil es verschiedene Sprachen sind.
Das Argument, dass verwandte Sprachen ja eigentlich auch gleiche oder ähnliche Regeln haben müssten, ist natürlich ein sehr gutes. Je enger zwei Sprachen miteinander verwandt sind, desto mehr gleiche Regeln gibt es.
Aber es gibt auch immer Regeln, die unterschiedlich sind. Denn wären alle Regeln gleich, dann gebe es überhaupt keinen Unterschied mehr. Die beiden Sprachen wären dann identisch. (Dabei zähle ich zu den Regeln nicht nur die Grammatik und die Ausspracheregeln, sondern auch das Vokabular, denn auch das sind letztendlich Regeln, nämlich Regeln, die Lautfolgen auf Bedeutungen abbilden.)
Mit anderen Worten: Wenn zwei Sprachen unterschiedlich sind, muss sich der Unterschied ja irgendwo manifestieren. Daher muss es zwingend Regeln geben, die voneinander abweichen.
Welche Regeln das im konkreten Fall sind, ist ein Ergebnis des Zufalls.
Zusatz
(Der folgende Teil ist nicht mehr als Teil der Antwort gedacht)
Wie kommt es denn überhaupt dazu, dass es unterschiedliche Sprachen gibt?
In Europa ist es so, dass einige der hier gesprochenen Sprachen von den uralischen Sprachen abstammen (Finnish, Ungarisch), die anderen von den indoeuropäischen Sprachen, darunter die Westgermanischen Sprachen, zu denen unter anderem Deutsch und Englisch gehören.
Es deutet einiges darauf hin, dass vor ca. dem 6. Jahrhundert in Europa eine gemeinsame ur-westgermanische Sprache gesprochen wurde, und zwar in einem breiten Streifen von Norditalien bis zur Nordsee, einschließlich der Ostküste Großbritanniens. Der Osten des heutigen Österreichs gehörte nicht dazu, ebensowenig das Gebiet auf dem eine Zeit lang die DDR existierte, dafür aber das Gebiet der heutigen Benelux-Länder und der Nordosten Frankreichs.
Diese urwestgermanische Sprache wurde in vielen verschiedenen Dialekten gesprochen. Sie war also vielmehr ein Kontinuum vieler ähnlicher Dialekte, die sich gegenseitig beeinflussten. Ohne eine Fremdsprache zu lernen, konnte jeder mit allen Leuten reden, die nur ein oder zwei Tagesreises entfernt waren, denn die lokalen Dialekte gingen fließend in die Dialekte der Nachbarregionen über. Aber jemand, der in der italienischen Po-Ebene gelebt hat, dürfte erhebliche Probleme gehabt haben, jemanden zu verstehen, der an der britischen Ostküste lebte.
Für die deutschen Dialekte gilt das auch heute noch. Jeder, der aus dem Norden Deutschlands stammt und Urlaub in Österreich oder der Schweiz gemacht hat, kann das bestätigen.
Im Lauf der Zeit haben einige Leute in einer bestimmten Region ohne besonderen Grund angefangen, bestimmte Wörter anderes auszusprechen oder sie haben Grammatikregeln geringfügig abgeändert (das passiert auch heute noch und ist ein unbewusster Prozess). Wenn das die anderen Bewohner des Dorfes nachgemacht haben, und sich diese neue Mode in die Nachbardörfer verbreitet hat, hat das den lokalen Dialekt verändert.
20 km weiter hat sich vielleicht eine andere lokale Variation entwickelt. Das kann dann entweder dazu geführt haben, dass sich einzelne dieser Variationen auch in größeren Regionen durchgesetzt haben, oder dass sie wieder verschwunden sind. Es ist aber auch passiert, dass in Region A und Region B der Unterschied weiterbestanden hat, und dass er sich im Lauf der Zeit verstärkt hat. Das passierte besonders häufig dann, wenn geographische oder politische Gründe die Kommunikation zwischen diesen Regionen behinderten.
Irgendwann konnte man dann nicht mehr von einem Kontinuum sprechen. Um das Jahr 600 herum gab es Altenglisch auf Großbritannien, Althochdeutsch im Alpenraum, und dazwischen Altfriesisch, Altsächsisch, Altniederländisch und Altmittelfränkisch. Das Althochdeutsch konnte man noch weiter untergliedern in Langobardisch (in Oberitalien), Altbayrisch (Bayern und Teile des heutigen Österreich), Altalemannisch (heutige Schweiz, Schwabenland), Altostfränkisch und Altthüringisch.
Diese Sprachen gelten als unterschiedlich, aber doch noch als so eng verwandt miteinander, dass eine Kommunikation ohne Dolmetscher auch mit Sprechern benachbarter Sprachen möglich war.
Innerhalb der Regionen näherten sich die lokalen Dialekte aneinander an, dafür wuchsen die Unterschiede zwischen den Sprachen, und heute gelingt es einem deutschen Muttersprachler kaum noch eine Unterhaltung in niederländischer Sprache zu verstehen, und der Unterschied zwischen Deutsch und Englisch ist sogar noch größer.