In der Dissertation für den Fachbereichs Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg mit dem Titel "Die Entwicklung des deutschen Pluralsystems im 20. Jahrhundert" (PDF) erläutert der Autor im zweiten Kapitel die historische Entwicklung des s-Plurals im Deutschen:
Die Diskussion um den s-Plural im Deutschen ist nicht neu in der deutschen
Philologie, sondern reicht weit in die Vergangenheit zurück. Nach wie vor wird
der Status des s-Plurals kontrovers diskutiert.
Einige Ansätze vertreten die Hypothese, dass der s-Plural ursprünglich eine französische Form ist. Im Gegensatz dazu gehen andere Forscher davon aus, dass diese Form aus dem Niederdeutschen stammt. Die divergierenden Meinungen, die in der Literatur vertreten sind, können in vier Gruppen eingeteilt werden:
I. Altsächsischer Ursprung
Hirt (1919) meint, dass der s-Plural direkt aus dem Altsächsischen stammt. Er
hat bei der Erklärung der Formen wie Jungens bemerkt, dass der s-Plural die
einzige neuhochdeutsche Pluralendung ist, die auf das Indogermanische zurückgeht und die mit dem gotischen Plural auf –os identisch ist, z.B. Nominativ
Plural gotisch Dago-s, dessen -s sich im Niederdeutschen Jungens, Mäkens
erhalten hat. [...]
II. Mittelniederdeutscher versus Mittelniederländischer Ursprung
Die zweite Gruppe meint, dass der neuhochdeutsche s-Plural über das Mittelniederdeutsche auf das Mittelniederländische zurückgeht, wobei sie über den
Ursprung des mittelniederländischen s-Plurals nicht einig sind. Socin äußerte
seine Meinung dahingehend, dass der s-Plural in der Schriftsprache aus dem
Niederdeutschen stammte. [...]
III. Französischer Ursprung
Die dritte Gruppe vertritt eine Meinung, die besagt, dass der s-Plural direkt aus
dem Französischen stammt. Diese Meinung wird durch mehrere neuhochdeutsche Grammatiker vertreten. Matthias argumentiert, dass diese Pluralform ursprünglich in die Schriftsprache des 17. und 18. Jh.s durch viele eingedeutschte/dem Französisch entlehnte, wie Bataillons, Mademoiselles etc. gekommen ist. [...]
IV. Neubildung des Deutschen
Die vierte Gruppe geht davon aus, dass der s-Plural auf dem deutschen Sprachgebiet neu entstanden ist. Diese Meinung wurde von Behaghel schon früh vertreten. Er geht von den ursprünglich genitivischen Pluralen bei Eigennamen und Titelbezeichnungen aus wie: Meiers, Doktors, Scherers, Pfarrers, etc. Die Wörter wie Pfarrers und Doktors sind keine Pluralformen von Pfarrer und Doktor, sondern ist die Familie des Pfarrers, oder des Doktors, und sind somit aus dem Genitiv des Pfarrers entstanden, oder entstanden aus präpositionalen Verbindungen, wie ins Müllers (Haus). [...]
Die wissenschaftlichen Arbeit, deren Lektüre ich empfehle, da sie auch für Laien sehr aufschlussreich und interessant ist, enthält auch eine quantitative Analyse der Substantivendungen. Darin wird auch die Zunahme der Anzahl der s-Plural-Wörter im 20. Jh. deutlich.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der s-Plural in der deutschen Sprache relativ neu ist. Die Forscher waren und sind sich nicht einig über die Herkunft dieser Pluralform.
Zur Frage, wie und wann das Plural-s im Englischen entstanden ist, gibt es auf der Seite "History of English" folgende Erklärung:
Middle English lost the case suffixes at the ends of nouns. Phonological erosion also occurred because of this, and some consonants dropped off while some vowels became əand dropped off too. The generalized plural marker became -s, but it still competed with -n.
Middle English (Mittelenglisch) ist die Form der englischen Sprache, die zwischen dem 12. und der Mitte des 15. Jahrhunderts gesprochen wurde. Wie im Zitat bereits erwähnt, weist Mittelenglisch gegenüber dem Altenglischen u. a. eine starke Vereinfachung der Flexionsformen auf; die übliche Pluralendung für fast alle Substantive wurde zu -es und -en.