Ich habe die Formulierung »jeder noch so kleinste« zwar noch nicht bewusst wahrgenommen, aber im Internet scheint sie weit verbreitet zu sein. Sucht man bei Google nach »"jeder noch so kleine"« (mit Eingabe der hier dargestellten Anführungszeichen um genau diese Phrase zu suchen) und nach »"jeder noch so kleinste"«, findet man diese Trefferzahlen:
"jeder noch so kleine": Ungefähr 67.600 Ergebnisse
"jeder noch so kleinste": Ungefähr 45.100 Ergebnisse
Bing findet nicht nur weniger Treffer, sondern auch ein dramatisch anderes Verhältnis:
"jeder noch so kleine": 32.400 Ergebnisse
"jeder noch so kleinste": 1.230 Ergebnisse
Alle übrigen Suchmaschinen basieren auf einer dieser beiden Maschinen, liefern daher auch ähnliche Zahlen, oder zeigen leider keine Trefferzahlen an.
Ich halte das Ergebnis von Bing für plausibler, aber selbst hier kommt auf 26-mal »...kleine« einmal »kleinste«. Das ist mehr als man erwarten kann, wenn die Superlativ-Variante rein nur darauf zurückzuführen wollte, dass Menschen, die schlecht Deutsch sprechen, einen Fehler machen.
Daher orte ich hier eine sich anbahnende Änderung des Sprachgebrauchs. Wie jede derartige Änderung ruft sie am Beginn alle Sprachpolizisten der deutschsprachigen Länder auf den Plan, die alle laut »Fehler!« rufen, und den Untergang der deutschsprachigen Kultur beweinen.
Tatsache ist aber, dass Sprache lebt und sich im Lauf der Zeit ändert.
Zu den Regeln einer Sprache gibt es zwei Ansichten, die einander zwar auf gewisse Weise widersprechen, aber trotzdem beide im jeweiligen Kontext richtig sind:
Sprach-Regeln sind deskriptiv
Der tatsächliche Gebrauch einer Sprache durch ihre Sprecher wird nicht von expliziten Regeln vorgegeben. Kleinkinder, die eine Sprache lernen, lernen keine Regeln, und zwei Menschen, die sich im Kaffeehaus über ein beliebiges Thema unterhalten, denken beim Bilden ihrer Sätze so gut wie nie an die jeweiligen Regeln.
Es ist nämlich umgekehrt: Menschen benutzen Sprache. Dazu folgen sie zwar Regeln, aber das sind implizite Regeln, die einen in der Regel nicht bewusst sind. Germanisten, oder Linguisten sind bestrebt, aus den Äußerungen ihrer Mitmenschen genau diese Regeln herauszudestillieren. Dadurch entsteht ein Satz von Regeln, der beschreibt wie sich Menschen unterhalten.
Sprach-Regeln sind normativ
Der gegenteilige Denkansatz sieht die Regeln als eine Menge von Vorschriften, an die man sich zu halten hat, wenn man eine Sprache korrekt benutzen will. Dieser Ansatz ist der, dem der Sprachunterricht an Schulen und anderen Bildungsstätten zugrunde liegt, und den Erwerb einer Fremd-Sprache nicht nur erleichtert, sondern vermutlich sogar erst ermöglicht.
Der Unterschied zwischen beiden Ansichten wird dann offenbar, wenn tatsächlicher Sprachgebrauch und Regelsatz nicht mehr 1:1 zueinander passen. Der normative Ansatz sieht jede Abweichung von den Regeln sofort als Fehler. Der deskriptive Ansatz kennt keine falsche Sprach-Verwendung, sondern höchstens ungenügend formulierte Regeln.
Ich glaube, dass wir mit »jeder noch so superlativ
« gerade erleben, wie Gebrauch und Regeln auseinander driften. Die Vertreter der Ansicht, Regeln wären normativ, sind die, die darin Fehler sehen, die zu korrigieren sind. Das deskriptive Lager zuckt mit den Schultern und erweitert gelassen eine der vielen Regeln.
Bis jedoch aus den lässig geänderten deskriptiven Regeln neue normative Regeln werden, die auch im offiziellen Sprachunterricht Einzug halten, vergehen oftmals mehrere Jahrzehnte.