Die beiden Wörter für und vor haben tatsächlich einen gemeinsamen Ursprung und sind erst allmählich divergiert. Ähnliches gilt für die englischen Wörter for und [be]fore. Im Niederländischen gibt es dagegen nur ein Wort mit beiden Bedeutungen: voor.
Das Luther-Beispiel (und insbesondere die Reaktion von raznagul darauf) zeigt, dass die Übergänge zwischen für und vor auch heute noch fließend sind. Heute sagt man zwar, etwas ist wahr vor Gott bzw. vor den Leuten. Für wäre hier aber mindestens genauso logisch: etwas ist wahr für Gott oder für die Leute.
Um die Zeit Luthers herum wurde den vielen regionalen Dialekten mit ihren jeweiligen Schreibtraditionen eine einheitliche "hochdeutsche" Sprache und Schrift zur Seite gestellt, die oft feinsinnige Unterscheidungen traf, wo die meisten Dialekte das bereits nicht mehr oder noch nicht taten. Dadurch kam es zwangsläufig zunächst zu gewissen Unsicherheiten. Schließlich war damals niemand mit Hochdeutsch aufgewachsen, und auch alle älteren Bücher waren nicht in Hochdeutsch geschrieben.
In diesem Fall erkennen wir an der Formulierung "für den Leuten", dass Luther tatsächlich die Bedeutung meinte, die wir heute immer als vor schreiben. Für uns ist heute klar, dass für + Dativ gar nicht geht, aber solche Regeln brauchten erst eine Weile, um zu entstehen, sich durchzusetzen und von allen verinnerlicht zu werden.
PS: Soweit basierte meine Antwort auf Allgemeinwissen statt auf speziellen Kenntnissen. Inzwischen habe ich aber eine interessante Quelle ergooglet:
Ein Grundzug der wortgeschichtlichen Entwicklung, der sich beim Übergang zum Nhd. spürbar verstärkt, ist die genauere Abgrenzung sich berührender oder überlappender Anwendungsbereiche sinn- und funktionsverwandter Wörter. Nicht selten kommt es dabei nach einer Zeit unsicheren Sprachgebrauchs zu einer Neugliederung des betreffenden Feldes, wo z.B. für, als, manch, mögen, tun gegenüber den expansiven vor, wie, viel, können, machen einen speziellen Operationsraum zugewiesen erhalten [...].
Besonders bei den Kleinwörtern nehmen die frnhd. Grammatiker auf die Neuregelung Einfluss, suchen sie zumindest klar zu fixieren, z.B. J. Bödiker [...] 1690 [...]:
"Bisher ist ein alter Irrtuhm vorgangen mit dem Für und Vor ... Weil nemlich Vor bedeutet die Gegenwart, Zeit, Vorzug u.s.w.; so kan Für das nicht bedeuten ... Weil nun vor den Dativum hat in allen seinen Bedeutungen (außgenommen ad locum); so kan für keinen Dativum haben ... für und vor war damals (d.h. zur Zeit Luthers) nicht unterschieden; nunmehr aber ist der Unterschied gemercket."
Quelle: Johannes Erben 1970
(Anmerkung: Bei all den von Erben aufgezählten "Kleinwörtern" fällt auf, dass sie im Niederländischen anders verwendet werden. Das Niederländische hat sich ja um diese Zeit herum vom Deutschen abgespalten und hat diese Entwicklungen offenbar so nicht mitgemacht - dafür aber sicher andere.)
PPS: Anderswo zitiert Susan Schlothauer aus Adelung 1811 (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen) so:
"„(...) es ist gewiß, daß man vor Luthers Zeiten keinen Schriftsteller aufweisen kann, der beyde Vorwörter [für und vor] beständig und mit Bewußtseyn unterschieden hätte".