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Aus dem Deutschbuch1 meines Sohnes:

[… kurze Beschreibung des Unterschieds zwischen natürlichem und grammatikalischem Geschlecht anhand des Begriffs Mädchen …] Das kann zu Schwierigkeiten beim Gebrauch der Pronomen führen. Darum gilt die Regelung: In dem Satz, in dem das Wort „Mädchen“ steht, benutzt man die sächliche Form des Pronomens („es“). Bei den nachfolgenden Pronomen benutzt man die weibliche Form („sie“).

Weder mir noch meinem Mann (beide Muttersprachler) war eine derartige Regelung bekannt und vom Sprachgefühl her würden wir auch in längeren Texten konsequent das Pronomen passend zum grammatikalischen Geschlecht wählen – Mädchen bleibt es.

Frage:
Ist das einer der Fälle, in denen Sprachgefühl und Grammatikregeln kollidieren, oder steht in dem Buch einfach etwas Falsches bzw. Irreführendes?

Edit zur Klarstellung:
Das Schulbuch formuliert einen "Zwang" zum Genuswechsel, der weder meinem Sprachgefühl entspricht, noch in den diversen verlinkten Antworten gegeben scheint. Aus meiner Sicht (und auch laut den diversen Antworten) ist der Wechsel allenfalls möglich. - Gibt es irgendeine Regel, wonach ein solcher Wechsel nicht nur erlaubt, sondern erzwungen wäre?


1 Deutschbuch 1, Sprach- und Lesebuch für Gymnasien in Baden-Württemberg; Cornelsen Verlag

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    Ähnlich: german.stackexchange.com/questions/11137/…
    – chirlu
    Jan 21, 2016 at 15:40
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    Der durchgängige Gebrauch von Pronomen im Neutrum ist stark veraltet. Er kommt bspw. in Märchen wie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ vor. Darin hat das Kind allerdings auch keinen Namen und wird auch nie mit einem femininen Substantiv (z.B. Tochter oder irgendwas auf +in) bezeichnet. Spätestens wenn verschiedene Substantive mit unterschiedlichem Genus (oder Namen) für dieselbe Person mit bekanntem Sexus verwendet werden, muss man Pronomen am natürlichen statt grammatischen Geschlecht ausrichten. Ansonsten besteht heute ohnehin die Tendenz dazu mit steigender Entfernung zum Substantiv.
    – Crissov
    Jan 21, 2016 at 16:45
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    @chirlu Schulbücher stellen nicht nur im Sprachunterricht gerne Regelmäßigkeiten als Regeln dar. Auf dem Niveau kann das sogar zweckmäßig sein. PS: Die konsequente Ausrichtung am natürlichen Geschlecht ist natürlich seit jeher eine Forderung der feministischen Sprachkritik.
    – Crissov
    Jan 21, 2016 at 16:47
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    Wer eine Form mit männlichem Protagonisten sucht: "Karl ist eine Respektsperson, der niemand zu widersprechen vermag, und (die/der) ... (ihre/seine) ... . Jan 22, 2016 at 13:15

3 Answers 3

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Ein ähnlicher Gebrauch wird in Duden – Richtiges und gutes Deutsch beschrieben. Demnach ist beim Pronomen das Femininum wie das Neutrum möglich, wobei die feminine Form besonders dann bevorzugt wird, wenn das Pronomen weiter entfernt steht.

Das Mädchen hat gestern seine (seltener: ihre) Puppe vergessen.

Das Mädchen fand rasch Freundinnen. Besonders bemühte sie sich um ihre Tischnachbarin.

Dieser Gebrauch wird jedoch nicht wie in dem in der Frage zitierten Schulbuch als Regelung bezeichnet. (Lediglich die Verwendung von seine in „Das Mädchen hat gestern seine Puppe vergessen.“ ist als die von der Dudenredaktion empfohlene Variante gekennzeichnet.)

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Ich habe 50 Belege ausgewertet, in dem sich im selben Satz ein Pronomen auf ein vorangegangenes Mädchen bezieht. Es ist ein Verhältnis von 27 sie zu 23 es. 50 Belege sind nicht die Welt, aber ich erwarte da keine massiven Veränderungen.

Ich persönlich kann das völlig mit meinem Sprachgefühl vereinbaren. Das Mägdlein ist ja nur auf Grund des Diminutivs sächlich; der Sprecher weiß aber, dass es eigentlich weiblich ist. "Sie" ist daher semantisch angemessen. In einem Fall gibt es sogar einen wilden Wechsel:

Einige Zeit wohnte das Mädchen beim Vater, dann bei der Oma, mit der sie sich nicht verstand, dann kam es zu Pflegeeltern, dann zog es zur Mutter, die mittlerweile in Norwegen lebte, dann kam sie wieder zurück ins Elternhaus in den Kreis Altenkirchen.

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    Bei dem chaotischen Beispiel rollen sich mir die Zehennägel...
    – Stephie
    Jan 21, 2016 at 19:58
  • Schöner Fund, jup Jan 21, 2016 at 20:48
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Vorneweg: Ich tendiere dazu, sobald ich auf Mädchen ein Pronomen folgen lasse, sofort sie statt es zu benutzen.

Das Mädchen hat ihre Puppe verloren.

Steht dort seine muss ich kurz überlegen, ob es die Puppe des Mädchens ist, oder ob sie einem ungenannten Jungen gehört. Allein deswegen kann es eine Grammatikregel, die es notwendig verlangt, nicht geben.

Auch die Strenge, dass der Einfluss des Wortes Mädchen nur exakt bis zu einem Punkt reichen soll, wirkt auf mich an den Haaren herbeigezogen. Ich meine mich deutlich an ein Buch zu erinnern, in welchem durchgängig es geschrieben wurde, wenn ein Mädchen gemeint war. (Mein Gehirn verrät mir aber nicht, worum es sich gehandelt hat – spontan eher etwas Klassisches.)

Grammatikalisch ist eine solche Regel also Humbug. Dennoch kann sie ihre Berechtigung haben: Als Stilkunde. Womöglich sind die Macher des Schulbuchs der Meinung, dass nur stilistisch schön ist, was sich an diese Regel hält. Nun, das können sie halten wie sie wollen, Loong hat die ganz leicht abweichende Meinung der Duden-Redaktion zitiert. Man könnte aber genau so gut die beiden anderen Stilregeln aufstellen:

  • Immer, wenn das Pronomen das Wort Mädchen ersetzt, ist es zu schreiben.

  • Egal, ob das Wort Mädchen da steht, wenn das Pronomen sich auf eines bezieht, ist sie zu schreiben.

Beide Stilregeln haben unter den Schreibern hier Verfechter, man sollte keine zur allein selig machenden Wahrheit erheben.

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  • Und wenn da 'ihre' steht, wieso musst Du nicht kurz überlegen, ob die Puppe einer ungenannten, anderen Weibsperson gehört? Oder musst Du das auch? Jan 22, 2016 at 1:33
  • Allein weil Du es anders handhabst, kann es eine solche Regel nicht geben? Dem Rest stimme ich zu.
    – Carsten S
    Jan 22, 2016 at 7:07
  • @userunknown Ich hab überlegen, warum ich nicht hab überlegen müssen, aber letztendlich ist es für mein Sprachzentrum der gleiche Satzbau wie »der Junge hat seinen Fußball verloren« – ich erwarte, dass da das entsprechende Pronomen steht, also nehme ich sofort an, dass die beiden zusammengehören. Analog zu »die Frau hat ihre Handtasche verloren« und »der Mann hat seine Brille verloren.« (Übrigens sind alle Sätze tendenziell sexistisch, aber das ist Selbstkritik.
    – Jan
    Jan 26, 2016 at 14:31
  • @CarstenS Weil die Grammatik von zwei Personen verschieden gehandhabt wird, kann es keine Grammatikregel geben. Analog zur inexistenten Grammatikregel, dass stehen das Perfekt mit sein bildet.
    – Jan
    Jan 26, 2016 at 14:34

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