Ich hatte eine Intuition, dass es etwas mit der früher verbreiteten Wendung nach Tisch zu tun haben könnte. Mir war nämlich nicht bewusst, dass es auch vor Tisch gibt. Der n-gram-Viewer hat mich eines Bessern belehrt. Ergebnis:
Bis ca. 1860 waren bei Tisch und nach Tisch etwa gleich häufig. In letzter Zeit dominiert allerdings bei Tisch (etwa Faktor 6). Daneben ist aber durchaus auch vor Tisch gebräuchlich, und zwar mit rund einem Drittel der Häufigkeit von nach Tisch.
Eine Suche in älteren deutschen Büchern nach vor Tisch und nach Tisch hat dann aber doch noch eine Spur ergeben. "Nach Tisch" wird dort typischerweise die Geselligkeit gepflegt, getrunken oder Spazieren gegangen. Der Verzehr von Süßem scheint da ganz gut dazu zu passen. "Vor Tisch" wird ebenfalls Spazieren gegangen, Disziplin unter den Kindern hergestellt, nichts Süßes gegessen (weil es den Appetit verdirbt), und, ganz wichtig, gebetet.
Mir scheint deshalb, dass hier zu Lande, anders als bei den Römern und ihren direkteren kulturellen Nachfahren, der Grundsatz "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen" galt: Erst die Moral, dann die Sättigung, dann das Vergnügen. Da bleibt dann, wie auch schon von user unknown vermutet, kein Raum für Vorspeisen. Das deckt sich übrigens auch durchaus mit meinen eigenen Erfahrungen. Im deutschen Sprachraum hab ich außer dem im Restaurant häufig zuerst servierten Beilagensalat selten Vorspeisen erlebt. In Frankreich, Italien und Spanien ist das aber sehr häufig.
Fazit soweit: Ein Vortisch wäre im Deutschen wohl eher so etwas wie ein Tischgebet. Das wäre aber eine überflüssige und unpassende Bezeichnung und war deshalb wohl nie üblich.
Eine andere Sichtweise: "Tisch" bezieht sich im Kontext von "vor/bei/nach Tisch" wohl auf das soziale Ereignis, zu dem alle Familienmitglieder versammelt sind. (Das ist der Hauptunterschied zu "Speise" im Kontext der Frage.) "Nach Tisch" bedeutet dann, dass das Ereignis im Prinzip vorbei ist. Wer will, kann schon mal gehen - er verpasst dann aber u.U das Beste (den "Nachtisch"). "Vor Tisch" ist der Zeitraum bevor alle versammelt sind. Vor dem für alle obligatorischen Tischgebet wurde aber nichts verzehrt. Selbst wenn es doch mal Vorspeisen gab, wurden sie wohl erst nach dem Tischgebet serviert und waren damit "bei Tisch", nicht "vor Tisch".