Irgendwie bin ich bei Teilen der Frage etwas verwirrt. Du schreibst: "Ich erkenne keinen Bezug zur Syntax. Der Zustandspassiv wird rein semantisch definiert und eignet sich damit bestenfalls als Stilmittel."
Dabei hast du die Konstruktion als mit sein und Partizip Präteritum (Partizip II / Partizip Perfekt (Passiv)) gebildet durchaus erkannt und syntaktisch charakterisiert.
Erst einmal sollten wir uns ausschließlich auf transitive (und nicht reflexive) Verben beschränken, denn das Zustandspassiv erfordert (im Ggs. zum Vorgangspassiv, das Ausdrücke wie hier wird gearbeitet erlaubt) notwendigerweise ein Subjekt, und das Subjekt eines Passivsatzes entspricht dem direkten Objekt des Aktivsatzes, welches per Definition nur transitive Verben haben. Der Großteil deiner Beispiel unter 3. ergibt damit a priori aus ganz grundsätzlichen passivtechnischen Gründen kein Zustandspassiv. Darüber hinaus muss ein Zustandspassiv mit einem Verb konstruiert werden, dass tatsächlich einen Resultatszustand hinterlässt.
Darüber hinaus ist es natürlich möglich, dass Partizipien als vollwertige Adjektive lexikalisiert werden. Das gilt beispielsweise für die Adjektive spannend, wohlhabend und überzeugend, die aus Partizipien Präsens (Aktiv) lexikalisiert worden sind. Dass diese Adjektive synchron nicht mehr grundsätzlich als Partizipien angesehen werden sollten, merkst du ja zumindest bei spannend und wohlhabend selber aufgrund der Bedeutung. Grundsätzlich kann das Partizip Präsens (bei dem, weil es aktivisch ist, keine semantische Beschränkung auf irgendwelche semantisch definierte Verbklassen vorliegt/vorliegen sollte) nicht prädikativ verwendet werden. Sätze wie ich bin nehmend, sie ist kaufend, sie sind laufend sind ungrammatisch.
Ich halte auch geschlossen und geöffnet für zumindest teilweise lexikalisiert, aber dazu unten mehr.
Dein Versuch, eine "sein + Partizip Präteritum"-Konstruktion dann als Zustandspassiv zu definieren, wenn sie dasselbe bedeutet wie das Perfekt eines Vorgangspassiv, krankt daran, dass die beiden Konstruktionen nicht dasselbe bedeuten.
Nehmen wir das Beispiel Ich bin geschlagen vs. Ich bin geschlagen worden.. Ersteres hat nur die Lesart, dass ich in einer Sache, bspw. einem Kampf, einem Spiel o.ä. geschlagen bin, mit einem Resultat, nämlich, dass das Ereignis vorbei und der Verlierer bekannt ist.
Der zweite Satz hat zwei Lesarten, nämlich diejenige, dass jemand mich in einem Kampf, Spiel o.ä. geschlagen hat oder, dass jemand mich mit Hand oder Gegenstand geschlagen hat. In letzterem Fall gibt es keinen notwendigen Resultatszustand. Willst du einen Resultatszustand hinzufügen, z.B. sie hat ihn totgeschlagen, so wird mit einem Mal auch wieder das Zustandspassiv akzeptabel: er ist/war totgeschlagen (vgl. Vorgangspassiv er wird/wurde totgeschlagen, er ist/war totgeschlagen worden).
Da Partizipien auch adjektivische Bedeutungen haben und auch das Partizip Präteritum attributiv verwendet werden kann (Der geschlagene Gegner, der nervige Gegner), hat sicherlich die Konstruktion des Zustandspassivs gemeinsamen Ursprung mit der einfachen prädikativen Adjektivkonstruktion, die syntaktisch vergleichbar ist (der Gegner ist geschlagen, der Gegner ist nervig).
Es ist trotzdem notwendig zu charakterisieren, dass man derartiges mit dem Partizip Präteritum machen kann und unter welchen Umständen das möglich ist (bspw. haben wir gesehen, dass es mit dem Partizip Präsens in prädikativer Stellung nicht funktioniert). Es gibt jetzt zwei Arten und Weisen, das zu charakterisieren.
Entweder sagt man, dass das Partizip Präteritum diese Eigenschaften in den oben genannten Fällen für sich hat und dann als Adjektiv mit stativer/resultativer Bedeutung fungiert, oder man definiert die Konstruktion als solche als Zustandspassiv. Ich sehe allerdings keinen notwendigen Widerspruch. Ich persönlich würde sagen, dass das Zustandspassiv eine bestimmte Verwendung adjektivisch gebrauchter Partizipien Präteritum ist. Man muss nur der Tatsache gerecht werden, dass das Zustandspassiv produktiv ist, bspw. ist der Bug ist endlich weggecodet ein völlig akzeptabler Satz in meinem Idiolekt trotz der jungen Entlehnung von coden und meiner Spontanbildung mit dem resultativen weg.
Was nun geöffnet und geschlossen angeht und warum ich sie zumindest für teillexikalisiert erachte, so liegt das daran, dass man sie in Konstruktionen wie Dieser Laden hat geöffnet/geschlossen verwenden kann, was nur ganz bestimmten Adjektiven vorbehalten ist. Aber womöglich braucht man bei einer rein adjektivischen Analyse der Partizipien diesen Lexikalisierungsunterschied nicht zu machen.
Noch ein paar Sachen zur Terminologie. Ich würde hier nicht von einem dritten Genus Verbi sprechen. Zustandspassiv und Vorgangspassiv sind dann doch recht ähnliche Bildungen (beide verwenden das Partizip Präteritum, beide verwenden Hilfsverben, die auch aus anderen Konstruktionen bekannt sind, beide lassen das direkte Objekt eines transitiven Verbs zum Subjekt werden). Es sind zwei etwas unterschiedliche Bildungen ein- und desselben Genus Verbi.
Ein drittes Genus Verbi ließe sich eher im noch eher alltagssprachlichen (aber zunehmend auch in förmlichen Texten auftauchenden) Dativ-Passiv mit kriegen, bekommen, selten auch erhalten (Hans bekam ein Fahrrad geschenkt, ich kriege das morgen mitgeteilt) erkennen.
Darüber hinaus ist sowohl im Zustands- als auch im Vorgangspassiv das Partizip als prädikativ zu betrachten. Prädikativ ist dasjenige Satzglied, welches eine Aussage macht und die Argumente des Satzes bedingt/auswählt, meistens ein Verb, in einigen Fällen ein Adjektiv, eine Nominalphrase oder etwas anderes (dann im Deutschen typischerweise mit Hilfsverb sein/werden o.ä.).
Was übrigens den aktuellen Stand der Wissenschaft angeht, so würde ich nicht in Lehrbüchern suchen, sondern in linguistischen Artikeln. Die Definitionen und Beschreibungen in Lehrbüchern und Grammatiken für den Alltagsgebrauch sind oft um Jahrzehnte veraltet, und das oft auch aus gutem Grund. Bisweilen stellen sich linguistische Sachverhalte als sehr komplex heraus, sodass man sicherlich über das Thema des Zustandspassiv im Deutschen allein mehr als éine Dissertation verfassen kann und weswegen meine Beschreibung hier sicherlich nicht jedem einzelnen Detail, das du irgendwo zum Zustandspassiv findest, gerecht wird.