Natürliche Sprachen werden nicht konstruiert. Es ist nicht so, dass sich jemand hinsetzt und sich ungefähr folgendes überlegt:
Hm. Wenn wir die Verben nicht irgendwie konjugieren, kann das zu Unklarheiten führen. Also bauen wir irgend etwas ein, um das zu beheben. Mal sehen, vielleicht hilt es, wenn wir die Verben nach den Personen konjugieren. Also machen wir das ab jetzt so.
So entsteht keine einzige natürliche Sprache. Die Regeln, die in einer Sprache gelten, sind vielmehr das Ergebnis eines Prozesses, der sehr eng mit der Evolution verwandt ist, die die vielen verschiedenen Arten von Lebewesen hervorgebracht hat. Da hat auch niemand gesagt:
Hm. Wenn wir den Affen drei oder vier Arme geben, tun sie sich vielleicht nur weh. Also geben wir ihnen lieber nur zwei, das sollte ausreichend sein. Und Haare anstelle von Federn machen sich bei Affen auch besser.
Auch bei Sprachen entstehen die Arten, wie gesprochen wird, durch das Sprechen, und dadurch, wie gut sich die kleinen Variationen, die es ständig gibt, durchsetzen können.
Wenn eine Variation eine Verwechslungsgefahr vermindern kann, begünstigt das natürlich den Fortbestand dieser Variation, aber viele Regeln, die in Sprachen gelten, könnte man genauso gut durch ganz andere ersetzen, ohne, dass dadurch ein Nachteil entsteht.
Das beweisen ja auch die vielen Dialekte, die in fast allen Sprachen entstehen. Das sind Variationen dieser Sprache mit anderen Regeln.
Die einzig richtige Antwort auf die Frage warum es diese oder jene Regel in einer bestimmten Sprache gibt, lautet daher:
Weil diese Regel zufällig so entstanden ist, und sich nicht als überaus nachteilig erwiesen hat.
Hinter einer bestimmten Regel eine Absicht zu vermuten, ist - zumindest bei natürlichen Sprachen - Unsinn.
Ergänzung
(als Antwort auf Kommentare)
Ich habe eine meiner Bachelorarbeiten über genetische Algorithmen geschrieben. Genetische Algorithmen sind - etwas vereinfacht gesagt - Computerprogramme, die sich nach den Regeln der natürlichen Evolution fortpflanzen, wobei jedes Programm Eigenschaften seiner beiden Eltern erbt, und einer geringfügigen, aber völlig zufälligen, und vor allem völlig ziellosen, Mutation, unterliegt. Diese Programme mussten in meiner wissenschaftlichen Arbeit eine bestimmte Aufgabe erfüllen, nämlich ein bestimmtes Brettspiel (eine 3D-Variante von Tic-Tac-Toe oder Vier-Gewinnt) besser als ihre Verwandten spielen. Jedes Programm paart sich bevorzugt (aber nicht ausschließlich) mit guten Spielern. Jede Generation (außer der ersten) besteht ausschließlich aus Programmen, die auf diese Weise aus der Elterngeneration entstanden sind. Kein Programm lebt länger als eine Generation.
Das Ergebnis meines Versuches war sehr eindeutig: Die Programme aus späteren Generationen haben alle das Spiel wesentlich besser beherrscht als die zufallserzeugte Adam&Eva-Generation. Nach nur wenigen Dutzend Generationen spielte auch das schlechteste Programm einer Generation besser als das beste Programm der Startgeneration.
Das Wichtigste dabei: Niemand hat den Programmen beigebracht, was gute und was schlechte Züge sind, und es gab auch sonst keine Gründe, warum die Programme von Generation zu Generation immer besser spielen sollten. Und trotzdem sind am Ende aus einer völlig ahnungslosen Start-Generation wahre Experten entstanden.
Der einzige Grund, warum die Programme so gut geworden sind, sind einerseits zufällige Variationen und andererseits die schlechten Chancen der schlechten Variationen, sich fortzupflanzen.
Und ganz genau so funktioniert auch die Evolution der Lebewesen, und auch die Evolution der Sprachen.
Wenn eine Gruppe von Menschen an Verben bei bestimmten Gelegenheiten Suffixe anhängen, während das die Mehrheit nicht tut, ist das eine zufällige Variation. Wenn anderen Menschen diese Variation besser gefällt als die bisherige Gepflogenheit (etwa weil die Variation leichter auszusprechen ist, weil sie lustiger klingt, weil sie den Sprecher klug wirken lässt, oder weil sie Verwechslungen vermeiden kann), dann hat sie eine erhöhte Chance sich unter den Sprechern zu verbreiten als eine Variation, die nicht so gefällig ist.
Auf diese Weise entstehen ganz leicht unterschiedliche Weisen zu sprechen, die sich entweder in der gesamten Sprechergruppe ausbreiten (was die Sprache als ganzes verändert), oder zur Entstehung von Dialekten führt, wobei diese Dialekte sich weiter auseinander entwickeln können, was zur Entstehung neuer Sprachen und sogar neuer Sprachfamilien führen kann.
Es ist aber falsch zu glauben, dass die Evolution nur Verbesserungen hervorbringt. Die Evolution weis nichts von guten und schlechten Lösungen. Daher ist auch die Frage nach einem tieferen Grund unsinnig, was einige Beispiele aus dem Reich der Lebewesen zeigen:
Warum hat die Evolution bei den Wirbeltieren Augen entwickelt, wo die lichtempfindliche Seite auf der Rückseite liegt, also hinter der Schicht mit den Blutgefäßen und Nerven? Bei den Tintenfischen hat die Evolution das besser gelöst, die haben Augen ohne einen blinden Fleck.
Warum baumeln die Hoden bei Männern außen am Körper herum, wo sie leicht verletzt werden können? Elefanten haben auch 37°C Körpertemperatur und funktionierende Hoden, die tief im Inneren des Bauches gut geschützt sind.
Diese Liste von nicht-optimalen Resultaten der Evolution könnte ich noch um viele weitere Beispiele verlängern. Was ich sagen will ist aber, dass die Evolution ihre Entscheidungen völlig grundlos trifft, und dass in manchen Fällen sogar das Ergebnis um einiges schlechter sein kann als eine gesteuerte, also von einem Grund ausgehende Entwicklung.