Analysieren wir mal die beiden Sätze aus Sicht des Verbs:
Ich schneide mich in den Finger.
- Ich – Nominativergänzung (wer?)
- schneide – reflexives Verb mit drei Ergänzungen
- mich – reflexive Akkusativergänzung (wen?)
- in den Finger – Direktivergänzung (wohin?)
Dieser Satz entspricht vom Satzbau her genau den folgenden Beispielen:
Hannes sehnt sich nach Hause zurück.
Du bringst dich in Teufels Küche.
Wir bewegen uns nach Süden.
Das ist ein gängiger Satzbau und somit anscheinend vollkommen korrekt.
(Beachte meinen Nachtrag weiter unten, der diese Aussage wieder relativiert.)
Nun das andere Beispiel:
Ich schneide mir in den Finger.
- Ich – Nominativergänzung (wer?)
- schneide – reflexives Verb mit drei Ergänzungen
- mir – reflexive Dativergänzung (wem?)
- in den Finger – Direktivergänzung (wohin?)
Man könnte die Direktivergänzung als besondere Form einer Akkusativergänzung sehen. Immerhin steht der Finger im Akkusativ. Eine echte Akkusativergänzung enthält aber keine lokale Präposition. Außerdem wird nach einer Akkusativergänzung mit »wen oder was« gefragt, nicht mit »wohin«.
Eine echte Akkusativergänzung wäre »eine Kerbe«, »eine Wunde«, »ein Muster« oder etwas Ähnliches. Das sind Sätze, die eine Dativ- und eine Akkusativ-Ergänzung enthalten:
Ich schneide mir eine Kerbe.
Ich schneide mir eine Wunde.
Ich schneide mir ein Muster.
Die Ergänzung kommt ganz ohne lokale Präposition (in, auf, durch usw.) aus und kann mit »wen oder was« erfragt werden.
Hier gilt die Regel:
Wenn an ein Verb zusätzlich zu einer Nominativ- und einer Akkusativ-Ergänzung auch noch eine dritte Ergänzung gebunden ist, muss diese Ergänzung im Dativ (und vor der Akkusativergänzung) stehen.
Das ist auch in den folgenden Beispielen der Fall:
Ich überlasse dir meinen Mantel.
Doris schenkt ihrem Vater einen Hut.
Ich gönne mir ein Bier.
Aber:
Eine Direktivergänzung ist nunmal keine Akkusativergänzung, auch wenn sie außer einer Präposition auch noch einen Akkusativausdruck enthält. Daher greift die obige Regel nicht.
Das heißt aber trotzdem nicht, dass nun das Gegenteil gelten würde, dass also der Dativ verboten wäre.
Tatsächlich habe ich nirgendwo eine Regel gefunden, die irgendeine Aussage über Dativergänzung plus Direktivergänzung macht. Weder pro noch kontra.
Nachdem es keine (festgeschriebene) Regel gibt, zählt nur der tatsächliche Gebrauch, und hier kann man feststellen, dass der Satz
Ich schneide mir in den Finger.
tatsächlich verwendet wird und daher nicht falsch ist.
Fazit:
Beide Sätze sind richtig.
Nachtrag
Nochmal zurück zum Akkusativ, den ich am Beginn analysiert habe:
Die oben genannten Beispielsätze haben ein Problem: »Bringen«, »schneiden« und - in Form eines Wunsches auch - »sehnen« sind Verben, die eine Ortsveränderung des ganzen Subjekts ausdrücken. Es geht dabei im weitesten Sinn um eine Reise.
Das ist bei »schneiden« aber nicht der Fall. Hierbei geht es um eine Bewegung, die von einer Person, die im Subjekt steht, initiiert wird, und die dazu führt, dass etwas in einen Teil des Körpers der auslösenden Person eindringt.
Ein solches Beispiel ist:
Ich schieße mir/mich ins Knie.
In diesem Fall scheint mir nur der Dativ (also »mir«) richtig zu sein.
Für den Inhalt des folgenden Beispiels entschuldige ich mich schon mal in Voraus, aber es ist ein Beispiel, das exakt demselben Bauplan folgt, bei dem ich aber glaube, dass hier nur der Akkusativ richtig ist:
Du fickst dir/dich in den Allerwertesten.
Wie gesagt halte ich hier den Dativ für falsch und glaube, das hier nur der Akkusativ (also »dich«) richtig ist.
Somit stellen der Satz mit den Knieschuss und der Satz mit dem F-Wort zwei Beispiele mit genau demselben Satzbau aber unterschiedlichen grammatischen Fällen für die reflexive Ergänzung dar. Ich glaube, dass der Satz mit dem Fingerschnitt irgendwo dazwischen anzusiedeln ist. und bleibe daher bei meinem Fazit, dass nämlich beide Versionen korrekt sind.