Seit knapp einem Jahr lebe ich nicht mehr in Wien, sondern in St. Pölten, habe aber dennoch viel in Wien zu tun. Daher fahre ich oft mit dem Zug zwischen beiden Städten hin und her und habe auch eine Ermäßigungskarte, die bei den ÖBB »Vorteilscard« heißt. Meine Vorteilscard läuft im Jänner aus, daher haben mir die ÖBB einen Brief geschickt, in dem ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass jetzt ein günstiger Zeitpunkt wäre, eine neue Vorteilscard zu beantragen.
In diesem Brief steht unter anderem dieser Satz:
Ihre neue Vorteilscard wartet schon auf Sie!
Nun hege ich schon mal große Zweifel daran, dass eine Karte, die ich noch gar nicht bestellt habe, überhaupt existiert. Daher wird sie sich schon aus diesem Grund schwer tun irgend etwas zu tun, und sei es nur irgendwo faul herumzuliegen und zu warten. Aber sehen wir mal über dieses Detail hinweg. Angenommen die Karte würde tatsächlich schon hergestellt worden sein und jetzt irgendwo rumliegen:
Kann man dieses rumliegen als »warten« bezeichnen?
In der Frage »Beziehung zwischen dem Warten von Maschinen und dem Warten auf ein Ereignis?« wurde bereits geklärt, dass es zwei Ausprägungen des Wartens gibt, die aber nur zwei Seiten derselben Medaille sind (Details siehe dort):
- etwas instand halten
- das Eintreten eines bestimmten Ereignisses wahrnehmen wollen
Meine zukünftige Karte wird sicher nichts in Schuss halten, daher kann mit dem Warten nur gemeint sein, dass meine Karte Beobachtungen macht, um das Eintreten eines Ereignisses feststellen zu können. Das erwartete Ereignis ist der Eingang meiner Bestellung, welche meine Karte überhaupt erst aus dem Reich der Fantasie ins wirkliche Sein befördern könnte, aber dieser Widerspruch soll ja ausdrücklich nicht das Thema meiner Frage sein.
Meine Definition von »Warten«:
Ich glaube, dass mit
jemand wartet auf etwas
gemeint ist, dass jemand auf irgend eine Weise Ausschau nach einem Signal hält, das ihm anzeigt, dass sich ab dem Eintreten dieses Signals etwas verändern wird:
Wenn ich auf einen Bus warte, stehe ich an einer Haltestelle und schaue in die Richtung, aus welcher der Bus üblicherweise kommt. Das Auftauchen des Busses hinter einer Wegbiegung ist das Signal auf das ich warte. Es zeigt mir an, dass ich bald in den Bus einsteigen kann.
Wenn ich auf einen Anruf warte, richte ich meine Aufmerksamkeit auf erhöhte Weise auf die Laute, die mein Telefon von sich geben kann. Läutet es, hebe ich ab und spreche. Das würde ich natürlich auch tun, wenn ich auf keinen speziellen Anruf gewartet hätte. Der Unterschied besteht darin, dass ich beim Warten meine Aufmerksamkeit zumindest zeitweilig verstärkt auf das Telefon lenke. Wenn ich auf einen Anruf warte, werde ich auch dafür sorgen, dass ich das Telefon jederzeit hören kann. Jemand, der sein Telefon in einen ausgepolsterten Kasten stellt und sich Kopfhörer mit lauter Musik aufsetzt, wartet nicht auf einen Anruf.
Sogar wenn ich auf den Tod warte, weil ich vielleicht krank und des langen Lebens müde bin, tue ich dabei aktiv etwas: Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf Anzeichen, die das Ende meines Lebens ankündigen könnten. Und wenn diese Anzeichen auftauchen, werde ich mich ihnen entweder bewusst hingeben, oder mich dagegen wehren. Ich werde also irgend etwas tun. Das ist etwas anderes als ein unerwarteter Tod, der mich z.B im Fall eines plötzlichen Unfalls aus heiterem Himmel erwischt, und der mir keine Möglichkeit gibt, ihm mit irgend einer Aktion zu begegnen.
In allen Fällen, die mir als Beispiele einfallen, tut die wartende Person beim Warten aktiv etwas (nämlich im weitesten Sinn: Beobachten). Diese Fähigkeit traue ich einer Plastikkarte jedoch nicht zu.
Daher meine konkrete Frage:
Ist meine obige Definition zu eng gefasst? Kann man auch auf etwas warten, ohne die Bereitschaft zu haben, selbst auf das Eintreten des erwarteten Signals mit irgendwelchen Aktivitäten zu reagieren?