Ich habe gestern im Fernsehen einen Krimi gesehen, der in Südtirol gespielt hat (ORF-Landkrimi Südtirol »Endabrechnung«). Im Film wird Südtiroler Dialekt gesprochen. In einer Szene wird die Hauptfigur, Commissario Höllbacher, gebeten, seine Handynummer zu nennen, worauf dieser sagt:
mia hon khoa händy
Aus dem Kontext geht sehr eindeutig hervor, dass Höllbacher ausdrücklich nur von sich selbst als Einzelperson spricht (also nicht von sich als Mitglied einer Gruppe). Ein sehr ähnlich klingender Satz in Wiener Dialekt könnte lauten:
wia hom ka händy
Wobei das erste Wort (»wia«) auch wie (»mia«) klingen kann. Dieser Satz lautet auf Hochdeutsch aber:
Wir haben kein Handy.
Das Subjekt steht also ganz klar im Plural. Im Film hat der Commissario aber ganz eindeutig von sich allein, also von einer einzelnen Person gesprochen, daher hätte ich eher erwartet, etwas in dieser Art zu hören:
i hon khoa händy
Das erste Wort war aber ein deutlich hörbares »mia«. Auch an anderen Stellen im Film fiel auf, dass Personen, als sie über sich selbst sprachen, statt des erwarteten Singular-Pronomens »i« gelegentlich das Pronomen »mia« verwendeten, das ich aus anderen bayrischen Dialekten aber nur als Plural-Wort kenne.
An anderen Stellen hört man aber immer wieder das Pronomen »i«, wenn Personen von sich selbst sprachen. Ich vermute daher, dass die Verwendung von »mia« als Personalpronomen für die erste Person im Singular an bestimmte Bedingungen geknüpft ist.
Meine Fragen:
Unter welchen Umständen ersetzt man im Südtiroler Dialekt das Personalpronomen »i« durch »mia«?
Gibt es dieses Phänomen auch in anderen deutschen Dialekten?
Liegt hier vielleicht ein Einfluss aus dem Italienischen vor? (Südtirol hat zwei Amtssprachen: Deutsch und Italienisch)
Klarstellung
(Am 5.1.2016; Notwendig geworden, weil viele gerne eine Frage beantworten wollen, die hier gar nicht gestellt wird)
Es geht in dieser Frage ganz ausdrücklich nicht darum, dass in vielen bairischen Dialekten das Personalpronomen, das Hochdeutsch »wir« lautet, als »mia« ausgesprochen wird. Das ist im gesamten süddeutschen Raum und in ganz Österreich so. (Wobei es vermutlich auch Ausnahmen geben wird.)
Da meine erste Muttersprache genau so ein Dialekt ist, ist mir das seit über 50 Jahren bestens bekannt. Danach frage ich also ganz ausdrücklich nicht.
Ich frage:
Warum wird in der Gegend von Bozen und Meran in bestimmten Fällen die eigentlich angebrachte Einzahl durch die Mehrzahl ersetzt?
Wenn ich das ins Hochdeutsche übersetze: Warum sagt der Darsteller, wenn er nur sich allein meint, den Satz
Wir haben kein Handy.
Warum sagt er nicht das was die meisten Leute erwarten würden, nämlich
Ich habe kein Handy.
Und weil auch das unklar zu sein scheint:
Aus dem Kontext geht klar und unmissverständlich hervor, dass er nicht für eine Gruppe spricht zu der er gehört. Es ist also nicht gemeint:
Wir von der Polizei haben keine Handys.
Der Sprecher meint im Gegenteil ausdrücklich nur sich alleine. Er meint:
Ich, Commissario Höllbacher, habe kein Handy, denn ich habe es vor einigen Tagen von einer hohen Brücke in einen Fluss geworfen, und ich möchte unerreichbar bleiben.
sagt aber:
Wir haben kein Handy.
mia hob khoa händy
Warum?
Noch mehr Kontext
(Ergänzung vom 11. Jänner 2017)
Der Film »Endabrechnung« (ein ORF-Landkrimi) ist in der ORF TV-Thek leider nicht mehr verfügbar. Ich habe den Film (Gesamtdauer: 90 Minuten) aber für private Zwecke noch rechtzeitig heruntergeladen, und habe drei kurze Ausschnitte extrahiert (15, 24 und 21 Sekunden lang), in denen Sätze zu hören sind, in denen der Sprecher von sich selbst im Plural spricht. Um die jeweilige Situation zu verstehen, habe ich auch einige Szenen zusammengefasst, so weit sie für die Fragestellung von Belang sind.
Im Vorspann wird die Vorgeschichte erzählt:
Der aalglatte Oberstaatsanwalt Nicoletti (Tobias Moretti) ermuntert den bodenständigen Commissario Höllbacher (Robert Palfrader) vor der versammelten Presse, den Namen eines Tatverdächtigen zu nennen. Es ist ein Pfarrer. Als sich der Pfarrer erhängt, sich wenig später aber dessen Unschuld herausstellt, fühlt sich Höllbacher für dessen Tod verantwortlich. Er fühlt sich aber auch von Staatsanwalt Nicoletti hintergangen, der sich aus der Affäre zieht und Höllbacher die alleinige Schuld zuschiebt. Höllbacher knallt Waffe und Dienstmarke auf Nicolettis Tisch und verlässt dessen Büro mit den Worten: »I scheiß auf euch olle«.
In der darauffolgenden Nacht (Höllbacher ist noch immer glatt rasiert) bleibt er mit seinem Auto ohne erkennbaren Grund mitten auf einer sehr hohen Brücke stehen, steigt aus und wirft sein Handy in die Tiefe.
(Ende von Vorspann und Vorgeschichte)
(In einer späteren Szene erzählt er einem Freund, dass er nicht mehr der Knecht seines Handys sein wollte.)
Am Beginn der Haupthandlung sieht man Höllbacher mit schütterem ungepflegtem Vollbart und mit ungepflegtem Haar. Auch seine Kleidung wirkt heruntergekommen. Die Haupthandlung spielt also einige Zeit (Wochen? Monate?) nachdem er sich seines Handys entledigt hat.
In Meran passiert ein Mord. Einem Bankdirektor wird ins Gesicht geschossen. Die Vize Questorin Anna Thaler hat die Aufgabe den Mord aufzuklären, aber sie und ihre Kollegen haben wenig Erfahrung mit solchen Fällen. Daher sucht sie Höllbacher auf, doch dieser lehnt die Bitte um Unterstützung ab. Höllbacher bezeichnet sich selbst in dieser Szene als »kein Polizist mehr«, Anna stellt aber klar, dass er nur im Krankenstand ist.
Höllbacher erfährt wenige Stunden später, dass der verhasste Oberstaatsanwalt Nicoletti den Fall übernommen hat. Er geht daraufhin ins Kommissariat, wo er Anna wieder trifft. Anna und ein junger Kollege überreden Höllbacher, sich Bilder vom Tatort anzusehen. Er tut ihnen diesen Gefallen, will dann aber gleich wieder gehen. Schnell bittet ihn der junge Kriminalbeamte noch für eventuelle Nachfragen um seine Telefonnummer, und da fällt das erste Mal der Satz
Mia hon khoa Händy.
(Hochdeutsch: »Wir haben kein Handy.«)
Diese Szene habe ich extrahiert und auf meinen Server hochgeladen:
- Mia_hon_khoa_handy_1.mp4 (Dauer: 15 Sekunden)
Der erste Satz von Höllbacher in diesem Ausschnitt ist übrigens:
Also, i pocks.
(Wörtlich: »Also, ich packe es«. Sinngemäß: »Nun denn, ich breche auf.«)
Hier spricht er von sich selbst also (wie auch die meiste Zeit über) im Singular. Erst auf die Frage nach der Telefonnummer wendet er den Plural an.
Wie zu erwarten nimmt Höllbacher den Fall trotzdem an. Die Ermittlungen führen ihn in ein Hotel, wo er ein Zimmermädchen befragt. In dieser Szene fällt derselbe Satz ein zweites Mal:
- Mia_hon_khoa_handy_2.mp4 (Dauer: 24 Sekunden)
In dieser Szene bin ich mir aber unsicher, ob er wirklich »mia« oder doch »i« sagt. (Der letzte Satz des Zimmermädchens ist übrigens nicht deutsch, sondern vermutlich serbisch oder bosnisch, also bitte nicht wundern, wenn man ihn nicht versteht.)
Im Lauf der folgenden Handlung passieren weitere Morde. Höllbacher wird klar wer der Täter ist. Er fährt zu ihm und wird von ihm bereits erwartet. Dieses Mal ist es der Täter, der von sich selbst im Plural spricht. Diesmal besteht kein Zweifel. Der Sprecher sagt ganz eindeutig nicht »i« (ich) sondern ganz klar »mia« (also »wir«). Zu hören in diesem Ausschnitt:
- Mia_hon_auf_di_gewartet.mp4 (Dauer: 21 Sekunden)
Der Dialog in diesem Ausschnitt lautet:
Mörder: Mia hon auf di gewartet.
Commissario: Weils di schtelln willscht?
Mörder: Weil du mi jez vileicht vasteasch?
Hochdeutsche Übersetzung:
Mörder: Wir haben auf dich gewartet.
Commissario: Weil du dich stellen willst?
Mörder: Weil du mich jetzt vielleicht verstehst?
Auch hier fällt auf, dass der Sprecher von sich selbst einmal im Plural spricht (Wir haben gewartet), dann aber gleich wieder im Singular (Weil du mich vielleicht verstehst).
Zum Abschluss nochmals meine Frage:
Unter welchen Umständen ersetzt man im Südtiroler Dialekt das Personalpronomen »i« durch »mia«?