Das Wort Libyen entstammt – wie viele andere Bezeichnungen für Gebiete des östlichen Mittelmeerraums – dem Altgriechischen; dort wird die ensprechende Gegend Λιβύη (Libýe) geschrieben. Über das Lateinische ist diese Bezeichnung wie viele andere aus diese Gegend (Αἴγυπτος (Aígyptos), Ἀσσυρία (Assyría), Κύπρος (Kýpros)) ins Deutsche gekommen. Früher wurde ein solches y im Deutschen zwar – wie im nachklassischen Latein oder in den romanischen Sprachen – als /i/ ausgesprochen, doch im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde die Aussprache /y/ eingeführt. Die »klassische« Aussprache wäre demnach die erste ([ˈliːby̆ən]) – was auch erklärt, warum dir diese in der Schule als die einzig richtige beigebracht wurde.
Der Laut /y/[1] und insbesondere der Unterschied zum Laut /u/ war nicht in der indogermanischen Ursprache präsent; diese kannte laut den Angaben von Wikipedia nur fünf Vokalphoneme (sowie Diphthonge). Daher weisen auch die meisten indogermanischen Sprachen ebenjene fünf Vokalphoneme auf, beziehungsweise unterscheiden mindestens diese fünf. Gerundete Vorderzungenvokale wie /ø/ und /y/ treten in Europa etwa in den germanischen oder in den gallo-romanischen Sprachen im Kontrast zu den entsprechenden gerundeten Hinterzungenvokalen wie /o/ und /u/ auf. Oft sind sie aus den entsprechenden Hinterzungenvokal durch Lautwandel entstanden, teils durch spontanen Lautwandel (so zum Beispiel im Altgriechischen oder im Französischen, wo jedes /u/ zu einem /y/ wurde), teil durch kombinatorischen Lautwandel (so zum Beispiel im Althochdeutschen, wo mit dem i-Umlaut ein /u/ genau dann zu einem /y/ wurde, wenn in der nächsten Silbe ein /i/ folgte).
Es ist also selbstverständlich für das Altgriechische, dass dort /y/ an jeder Stelle des Wortes auftreten kann; schließlich war es ein vollwertiges Vokalphonem. Gleiches könnte man auch für das Deutsche und die anderen germanischen Sprachen erwarten, in denen die Unterscheidung /i/ – /y/ – /u/ im Laufe des Sprachwandels erst phonemisch wurde. Die gerundeten Vordervokale sind Umlaute – das ist nicht nur ein schöner Name, sondern bezeichnet auch ihre Herkunft. Ein /i/-Laut in der Folgesilbe sorgte dafür, dass die entsprechenden hinteren Vokale /u/, /o/ oder /a/ nach vorne; in Richtung /i/ umgelautet wurden. Dies geschah vor Allem in Stammsilben, weswegen in deutschen Stammwörtern Umlaute auch in der Regel in der (betonten) Stammsilbe auftreten. Der Umlaut wurde erst phonemisch, als das Umlaut-auslösende /i/ oder der entsprechende Laut im Laufe des Sprachwandels schwand, und schließlich nur noch der umgelautete Vokal blieb um Silben auseinanderzuhalten (blute/Blüte).
Für deutschsprachige Zungen ist es üblich, /y/ in betonten Silben vorzufinden, allerdings sehr unüblich, diesen Laut in Silben zu finden, die nicht betont werden. Dies liegt daran, dass das Deutsche eine Wortsprache mit starkem dynamischen Akzent ist. Die Vokale der betonten Silben unterscheiden sich in ihrer Aussprache von denjenigen der unbetonten Silben. Nur in den betonten Silben sind die Vokale voll differenziert. Der Nebentonvokalismus hingegen ist reduziert. Die Vokale der unbetonten Silben zeigen eine starke Tendenz zur Reduktion, die letztlich im Schwa [ə] endet. Das Wort Libyen widersetzt sich dieser Tendenz: Hier müsste die /y/-Silbe die unbetonte Nebensilbe sein. Das ist für deutschsprachige Zungen ungewohnt und daher schwierig. Im Griechischen, im Französischen oder auch im nicht-indogermanischen Finnischen ist das nicht so. Diese Sprachen sind nicht Wortsprachen, sondern Silbensprachen. Sie haben nicht einen dynamischen, sondern einen musikalischen oder quantitativen Akzent. In den nicht akzentuierten Silben treten also dieselben Vokale auf wie in den akzentuierten. /u/ und /y/ können ohne Probleme in allen Silben auftreten (hylly, Finnisch für Regal, hat ein betontes und ein unbetontes /y/, beide sind qualitativ gleich).
Die offensichtlichste Vereinfachung wäre, die Rundung wegfallen zu lassen, dadurch würde aus /y/ ein /i/ – was die zweite Aussprachevariante erklärt, die übrigens auch dem Standard in den romanischen Sprachen, Englisch und Arabisch entspricht (dort überall eine Aussprachevariation von libia, d.h. ausschließlich mit dem /i/-Laut). Auch im Deutschen war dies die normale Aussprache, bevor für griechisches y wieder die Aussprache /y/ eingeführt wurde, und bis heute ist die Aussprache mit /i/ im Deutschen verbreitet. Dass hierbei zwei altgriechische Phoneme zusammenfallen ist unwichtig, denn das Wort bleibt trotzdem eindeutig. (Und auch im modernen Neugriechischen ist /y/ an vielen wenn nicht allen Stellen mit /i/ zusammengefallen.) Gleiches passiert übrigens in vielen anderen griechischen Lehnwörtern mit y, wie Polymér. Man beachte den Unterschied zu Polýpen, das scheinbar gleich aussieht, wo das y betont ist. Polymer kenne ich ausgesprochen ausschließlich mit /i/ in der mittleren Silbe, während ich Polypen nur mit /y/ kenne. Weitere Beispiele sind Wörter wie Brille, Gips oder Silbe, in denen die Aussprache mit /i/ sogar in die Schreibung übernommen wurde, obwohl ein griechisches y zugrunde liegt (vgl. Beryll oder englisch gypsum, syllable), oder Wörter wie Zylinder oder Ägypten, wo sogar Siebs noch die Aussprache mit /i/ vorschrieb, während heute die Aussprache mit /y/ üblicher geworden ist.
Bleibt nun noch die dritte Variante. Sie erscheint mir eine Art Hyperkorrektur. Etymologisch ist sie nicht sinnvoll und auch rein lautlich sollte Li-bi-en näher liegen als Lü-bi-en. Dass sie verwendet wird, steht außer Frage. Zu diesem Phänomen schreibt Stefan Kleiner:[2]
[D]ie Aussprache des Ländernamens Libyen [stellt] einen Spezialfall [dar], für den alle Kodizes – ähnlich wie bei Embryo – unsilbisches [y] in der Nebensilbe fordern (DAW: [Aussprachevariante 1]. Unser Korpusbefund zeigt, dass diese Variante nur auf 4% [sic] der Belege kommt, bei den allermeisten besteht eine Art [y]-Metathese ([Aussprachevariante 3]), d.h. das [y] wird in seine „natürliche“ Position in der Tonsilbe verschoben.
Die dritte Aussprachevariante entstünde also dadurch, dass die Sprecher im Hinterkopf wissen, dass dieses Wort ein /y/ enthalten muss, und unbewusst das /y/ in die (betonte) Erstsilbe verschieben, obgleich dort ein /i/ sein müsste. Man könnte dies auch als »Hyperkorrektur« verstehen: Irgendwo muss ein /y/ sein und es ist natürlicher, es in die erste Silbe zu setzen.
Anmerkung und Quelle:
[1]: Ich treffe hier bewusst und explizit keine Unterscheidung zwischen dem kurzen und dem langen Vokal /y/ beziehungsweise /yː/, wiewohl diese selbstverständlich verschiedene Phoneme darstellen. Es darf davon ausgegangen werden, dass kurzes und langes ü durch parallele Entwicklung entstanden sind.
[2]: Stefan Kleiner: Die Kodifikation der deutschen Standardaussprache im Spiegel der faktischen Variabilität des Gebrauchsstandards. In: Albrecht Plewnia, Andreas Witt (Herausgeber): Sprachverfall?. Dynamik — Wandel — Variation. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2014 (Institut für Deutsche Sprache (Mannheim): Jahrbuch; 2013, ISSN 0537-7900), ISBN 978-3-11-034291-8, Seite 290.