Bis 1996 war in Deutschland der Duden das offizielle Nachschlagewerk für die Rechtschreibung von deutschen Wörtern. Seit 1996 gibt der Rat der deutschen Rechtschreibung das amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung heraus, und das Österreichische Wörterbuch, das ebenfalls ein amtliches Rechtschreib-Regelwerk ist, folgt dem Regelwerk dieses Rates, denn österreichisches Deutsch und deutsches Deutsch stimmen in der Rechtschreibung (bis auf sehr wenige vernachlässigbare Unterschiede) exakt überein.
Aber das alles betrifft nur die Rechtschreibung. Also die Art und Weise, wie bereits vorhandene Texte in die Schriftform zu gießen sind. (»Bereits vorhanden« im Sinn von: »Im Kopf des Autors bereits ausformuliert«.) Diese amtlichen Rechtschreibregeln betreffen ausschließlich die geschriebene Sprache, sie haben absolut keinen Einfluss auf die gesprochene Sprache.
Es gibt aber auch Regeln, die festlegen, wie Wörter zu Sätzen zusammenzufügen sind, damit sie als sinntragende Einheiten weitergegeben und vom Empfänger verstanden werden können. Dieses Teilgebiet der Sprache ist die Grammatik, und sie betrifft gesprochene und geschriebene Sprache gleichermaßen. Grammatik behandelt die Beziehungen zwischen Wörtern in einem Satz, und in einigen Fällen auch über den Satz hinaus.
Ich gehe davon aus, dass es auch dafür ein offizielles Regelwerk gibt. Wenn ich im Internet nach Grammatikregeln suche, finde ich viele Webseiten, die sich diesem Thema widmen, und die das meiner Einschätzung nach oft auch ganz hervorragend machen. Aber auf keiner dieser Seiten fand ich einen Hinweis darauf, dass diese spezielle Seite von einer offiziellen und amtlichen Stelle betrieben wird. Ich fand bisher auch nirgendwo einen Verweis auf eine solche amtliche Stelle.
Daher meine Fragen:
- Gibt es überhaupt ein amtliches Regelwerk der deutschen Grammatik?
- Wenn ja: Wer gibt dieses amtliche Grammatik-Regelwerk heraus?
Nachtrag:
Ich formuliere die Frage anhand eines Beispiels neu:
Ein Schüler schreibt in einem Aufsatz:
In unserer Garage steht dem Vater sein Auto.
Der Lehrer sieht darin einen Fehler, korrigiert den Satz zu
In unserer Garage steht das Auto meines Vaters.
und gibt dem Schüler deswegen eine schlechte Note. Wenige Tage später kommt dem Schüler sein Vater in dem Lehrer seine Sprechstunde und diskutiert mit dem Lehrer. Der Vater behauptet, seinem Sohn sein Satz wäre völlig korrekt, der Lehrer behauptet das Gegenteil.
(Kursiv gesetzte Satzteile sind absichtlich in einer alternativen Grammatik verfasst, die vielerorts aber die tatsächlich vorherrschende Grammatik der alltäglichen Umgangssprache ist.)
Worauf kann sich der Lehrer bei seiner Argumentation berufen?
zweiter Nachtrag
Anders Beispiel, nämlich der eigentliche Grund für meine Frage:
Die Wiener Zeitung (gegründet 1703) ist nicht nur eine der ältesten Tageszeitungen der Welt, sonder auch eine mit sehr hohem journalistischem und sprachlichem Niveau. Vor drei Tagen erschien darin der Artikel Zu viel Licht über Wien. Ein Satz dieses Artikels löste auf Facebook eine Diskussion aus, jedoch nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen eines vermeintlichen Grammatikfehlers. Der Satz lautet:
Die Kuffner-Sternwarte will sich gemeinsam mit der Vogelschutzorganisation Birdlife Österreich und dem Umweltdachverband nun den anderen beiden Dritteln annehmen.
(Zum Verständnis: Laut Artikel geht die Lichtverschmutzung zu je einem Drittel auf das Konto der öffentlichen Straßenbeleuchtung, der Geschäftsbeleuchtung und der privaten Beleuchtung von Fassaden. Die Stadt Wien kümmert sich bereits um eines dieser Drittel, nämlich um die Straßenbeleuchtung. Die beiden anderen Drittel sind Inhalt des zitierten Satzes.)
Kritisiert wurde, dass eine so renommierte Qualitätszeitung wie die Wiener Zeitung den Dativ verwendet, wo nach Meinung einiger Kommentatoren zwingend und alternativlos der Genitiv erforderlich gewesen wäre. Es wurde empört geschimpft, es müsse doch wie folgt lauten:
Die Kuffner-Sternwarte will sich [...]
dender anderen beidenDrittelnDrittel annehmen.
Dabei haben die Genitiv-Verfechter die Dativ-Anhänger natürlich auch sofort mit dem Duden verprügelt.
Ich habe daraufhin recherchiert, und bin auf eine Seite gestoßen, die sich mit Grammatikfragen beschäftigt. Dort ist zu lesen:
Obwohl der Gebrauch von annehmen mit Dativ standardsprachlich nicht anerkannt ist, scheint er im Sprachgebrauch durchaus weit verbreitet zu sein. Eine Google-Suche zu "nehmen sich des Problems/dem Problem an" ergab 830 Treffer für die Variante mit Genitiv und 1030 Treffer für die Variante mit Dativ.
Diese Suche wurde im August 2011 gemacht. Ich habe diese Suche heute (19.2.2017) wiederholt, und finde:
- Genitiv "nehmen sich des Problems an": Ungefähr 746 Ergebnisse
- Dativ "nehmen sich dem Problem an": Ungefähr 1880 Ergebnisse
Das bedeutet dann aber, dass 72% aller Menschen (2011 waren es noch 55%) sich annehmen nicht mit dem Genitiv, sondern mit dem Dativ verwenden.
Da stellt sich für mich einerseits die Frage, wer den Herausgebern von Grammatikbüchern das Recht gibt, zu behaupten, eine Variante, die von drei Viertel der Bevölkerung verwendet wird, wäre falsch.
Andererseits würde ich aber auch gerne wissen, wer denn überhaupt die oberste Instanz bei solchen Streitfällen ist, und genau darum geht es in meiner Frage.