Man versteht den Begriff der Umgangssprache vielleicht besser, wenn man ihn vom kommunikationstheoretischen Standpunkt aus betrachtet. Ein Merkmal der Umgangssprache ist ihre Ökonomie: Gegenüber hochsprachlichen Formen ist sie durch zahlreiche Auslassungen und Verkürzungen charakterisiert, durch Abkürzungen und Vereinfachungen. Die Umgangssprache ist knapper, hat aber weniger expliziten Informationsgehalt und einen meist viel kleineren Empfängerkreis als die Standardsprache. Was sie an Komplexität aufgibt, muss sie durch Kontext – d. h. Konsens und Vorwissen – wettmachen.
Wenn eine Frau zu ihrem Mann sagt:
Geh nach oben, dreh die Wäsche um und mach Platz für eine neue Maschine.
dann muss der Mann Folgendes schon wissen, um diese Aufforderung zu verstehen:
- Ich soll nach oben auf den Dachboden gehen
- Auf dem Dachboden hängt die Wäsche
- Die Wäsche hängt teilweise zusammengefaltet auf einem Wäscheständer
- Man muss die Wäsche auseinanderfalten und neu falten, indem man die bisher nach innen gekehrten Flächen nach außen kehrt, damit sie auch trocknen können
- Die Wäsche muss enger gehängt werden, damit für zusätzliche Wäsche Platz ist, die gerade neu gewaschen wird
- Ich soll, wenn die neue Wäsche fertig gewaschen ist, diese nach oben tragen und aufhängen (unausgesprochen)
14 Wörter gegen 77 – eine gewaltige Ersparnis, natürlich nur für diesen speziellen Vorgang, denn irgendwann musste festgelegt werden, was mit den 14 Wörtern gemeint ist. Der Informationsverlust, der mit der Vereinfachung der Umgangssprache verbunden ist, lässt ihr auch relativ wenig Spielraum, wenn etwas völlig Neues vermittelt werden soll, eben weil sie auf Konsens und Vorwissen der am Gespräch Beteiligten aufbaut. Ihr Verständnis ist daher auch auf einen bestimmten Kreis von Kommunizierenden beschränkt, die das erforderliche Vorwissen haben, »mitdenken« und daher auch grobe, sinnstörende Ungenauigkeiten akzeptieren können.
Das kann, wie im Beispiel, ein sehr kleiner Kreis von Menschen sein oder eine größere Gruppe, die z. B. einen bestimmten Beruf, eine Lebensart oder besondere Interessen teilen. Auch die gemeinsame Benutzung eines bestimmten Mediums – z. B. Onlineforum oder Chat – kann zu einer eigenen Umgangssprache führen. Im letzteren Fall scheinen die Abkürzungen eine besondere Rolle zu spielen. Ich weiß z. B. bis jetzt nicht, was die Abkürzung OP bedeutet, die hier in Beiträgen immer wieder verwendet wird. Es gibt auch umgangssprachliche Wendungen, die von allen verstanden, aber nur in einem bestimmten durch Konsens gesicherten gesellschaftlichen Kontext verwendet werden.
Es leuchtet ein, dass die Leser einer Bedienungsanleitung für ein elektrisches Gerät mit (für sie) kryptischen Anweisungen wie im Beispiel oben wenig Freude hätten. Je weniger Gemeinsamkeiten die miteinander Kommunizierenden haben, je weniger sie auch über einander wissen, desto klarer genormt muss die Sprache sein. Es muss letztlich möglich sein, nur mit einer klaren Grammatik, Syntax und Semantik auch etwas mitzuteilen, wofür kein Vorwissen vorausgesetzt werden kann. Das kann und will die Umgangssprache nicht leisten, es ist die Aufgabe der Standardsprache. Diese lässt allerdings immer noch genug Raum für Interpretationen, weil sie weder eine Plansprache ist, die Bedeutungen und Ausdrücke und ihre Anwendungsmuster eineindeutig festlegt (wie z. B. Programmiersprachen), noch eine durchdefinierte Spezialsprache, wie wir sie in Gesetzestexten und anderen juristischen Texten finden.