Die zweite Strophe des Gedichts »der brennende hain«* von Jan Wagner lautet:
an seinem dorn: das friedliche gemälde,
das einmal da
war, schien verschwunden
zu sein, als wir vorm fensterrahmen standen,
Natürlich gelten die Gesetze der Interpunktion und Orthographie für Lyrik – insbesondere moderne Lyrik – nicht wie für Prosa, und die Typographie als gestalterisches Element kann eine andere Rolle einnehmen.
Trotzdem: Wo sollen in dieser Strophe die Pausen gesetzt werden (Prosodie): am Ende der Zeile oder nach den Kommas?
Die Pausen am Ende der Zeilen zu setzen erscheint mir natürlicher, entstellt aber die Sinneinheiten und ist nicht gut zu lesen.
Die Pause nach dem Komma (nach war und sein) zu setzen, erhält die Sinneinheiten. Wenn das die intendierte Lesung ist, hätte die Strophe auch so gesetzt werden können:
an seinem dorn: das friedliche gemälde,
das einmal da war,
schien verschwunden zu sein,
als wir vorm fensterrahmen standen,
Auch typographisch entsteht hier kein Nachteil gegenüber der tatsächlichen Anordnung.
Ich bin sicher, dass diese Entscheidung bewusst getroffen wurde: Was könnte der Grund dafür sein? Oder sollte man die Pausen doch am Ende der Zeile setzen, eventuell mit weiteren Pausen nach den Kommas?
* Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte. Fischer: Frankfurt am Main 2018, 112.