Die Verwendung von Singular oder Plural kann davon abhängen, ob es sich um ein inklusives oder exklusives (entweder-) Oder handelt.
In dem Satz
Er oder sie geht heute einkaufen.
deutet die Verwendung des Singulars darauf hin, dass entweder er oder sie heute einkaufen geht.
In dem Satz
Zu der Feier kommen der Rektor oder ein Prorektor.
könnte die Verwendung des Plurals darauf hindeuten, dass entweder der Rektor oder ein Prorektor oder beide zur Feier kommen.
Während für die Konjunktion und der Plural zwingend ist, gilt für oder: Geschmackssache! Es gibt keine bindende Regel für die Genauigkeit einer Aussage und damit hier auch keine bindende Regel für die Verwendung von Singular oder Plural.
In mathematischen Texten ist das ein völlig anderes Problem.
Da *und/oder*
in
... die gesamte Anzahl der Knoten in x und y und/oder die Länge der Sequenz x
letztlich heißt (A oder B) oder (A und B)
, würde ich unbedingt werden verwenden.
Mathematische Sachverhalte erklärende Texte stellen den Autor grundsätzlich vor das Problem, in erster Linie sprachlichen Regeln folgen und gleichzeitig mathematische Begriffe von gleichlautenden standardsprachlichen Wörtern unterscheidbar halten zu müssen. Das stellt hohe Anforderungen an sowohl die mathematische als auch die sprachliche Kompetenz des Autors.
Mathematisch logische Konjunktionen und standardsprachliche Wörter der Wortart Konjunktion unterscheiden sich in ihren Bedeutungen. Der Oder-Operator als mathematischer Begriff muss als solcher gekennzeichnet werden, um Verwechslungen mit dem standardsprachlichen oder auszuschließen. Die mathematisch logische Bedeutung kann in erklärendem Fließtext (im Gegensatz zu Beweisen) nicht stillschweigend unterstellt werden. In Fließtexten überschneiden sich sprachlicher und mathematischer Geltungsbereich. Eine mathematische Aussage ist aber stets nur innerhalb eines spezifischen Geltungsbereiches beweisbar. Es ist mehr als fraglich, ob die Verwendung des Plurals hier allein ausreichend für die Korrektheit der Aussage wäre.
Das mathematisch logische oder (A v B)
liefert folgende Wahrheitswerte:
| A | B | A v B |
|---|---|-------|
| 0 | 0 | 0 |
| 0 | 1 | 1 |
| 1 | 0 | 1 |
| 1 | 1 | 1 |
0 - falsch
1 - wahr
(A v B)
ist also wahr, wenn mindestens eine der Aussagen wahr ist. Im standardsprachlich verwendeten Wort oder ist die Bedeutung der letzten Zeile - nämlich der Fall, dass beide Aussagen wahr sind - nicht zwingend enthalten.
Dasselbe gilt für die Konjunktion und. Im mathematisch logischen Sinn ist und nur dann wahr, wenn alle in Relation gesetzen Aussagen wahr sind. Für das standardsprachliche und gilt das nicht.
Kinder und Renter haben freien Eintritt.
Das dürfte nur selten die Bedeutung haben, dass man Kind und Rentner sein muss, um nicht zahlen zu müssen.
Mathematisch ausgedrückt könnte das Gemeinte z.B. so aussehen:
F := Personen, die freien Eintritt genießen
R := Rentner
K := Kinder
∀f∈F: f∈R v f∈K
Es ist hier eindeutig, dass eine Bedingung genügt aber beide möglich sind. (Auch Kinder, die eine Waisenrente beziehen, haben freien Eintritt.)
Die Klarstellung im Fallbeispiel der Frage ist aus mathematischer Sicht korrekt, aus sprachlicher Sicht aber m.E. ungeschickt gelöst, auch wenn der Duden und/oder ausweist. Ich hätte aus stilistischen und didaktischen Gründen wohl eher
werden ... die gesamte Anzahl der Knoten in x und y oder (inkl.) die Länge der Sequenz x ... kleiner
oder
werden ... die gesamte Anzahl der Knoten in x und y oder die Länge der Sequenz x oder beide ... kleiner
verwendet, in jedem Fall aber ** werden **.