Konjunktiv I in selbständigen Sätzen
Die Frage weist schon auf die Quelle der Irritation hin:
Könnte jemand erklären, weshalb hier der Konjunktiv I benutzt wird? Es geht ja nicht um eine indirekte Rede.
Wir kennen den Konjunktiv I als Mittel zur Redewiedergabe in eingebetteten Sätzen. Wenn er in dieser Funktion in einem selbständigen Satz auftritt, ist die Einleitung dazugedacht.
Sie hat sich über mich beim Chef beschwert. <Sie sagte> ich sei zu langsam.
Etwas in Vergessenheit geraten ist der Konjunktiv I in selbständigen Sätzen. Hier bezeichnet er einen Wunsch oder eine Aufforderung.
Er lebe hoch!
Man erwarte nicht, daß ich mit einer förmlichen Erklärung des Daseins den Anfang machen werde. (Kant)
Diese Verwendung ist zunehmend auf wenige Verben beschränkt. Gerne wird mögen benutzt.
Man möge es mir verzeihen, daß … (statt: man verzeihe …)
Niemand möge sich einreden … (statt: Niemand rede sich ein …)
Während Konjunktiv I und II in abhängigen Sätzen beide zur Redewiedergabe verwendet werden, also zu einem gewissen Grad austauschbar sind, gilt diese Austauschbarkeit in selbständigen Sätzen nicht. Der Konjunktiv II hat hier seine eigene Aufgabe:
Wärst du doch nur bei mir! (Exklamativ, kontrafaktisch)
Du wärst nicht der Erste, der das versucht. (verstecktes kontrafaktisches Konditional)
~Wenn du das versuchen würdest, wärst du nicht der Erste.
Den "Mathesätzen" sei x eine natürliche Zahl fehlt das Kontrafaktische. Der Konjunktiv I schließt hier die Verwirklichung nicht aus, sondern ein.
Gott sei mit dir!
Abgrenzung zum Imperativ
Das Deutsche kennt die Modi Indikativ und Konjunktiv. Den Imperativ stellt man am besten als Halbmodus neben diese beiden, da er nicht nach Tempus differenziert und auf die 2. Person beschränkt ist. Formell und funktional stehen der
Konjunktiv I in selbständigen Sätzen und der Imperativ sich nahe. Formell wegen der weitgehenden Übereinstimmung von 1./3. Sg. Präs. Konj. und Imperativ Sg. (sei, bleib(e), leb(e)) und der Verwendung der 3. Pl. Präs. Konj. seien in Aufforderungssätzen mit der Distanzform Sie. Funktional wegen Paaren wie dem folgenden:
Wer Interesse hat, der sage bitte Bescheid! (Konjunktiv)
Sagt doch Bescheid, wenn ihr Interesse habt! (Imperativ)
Hier zeigt sich, daß man Verbmodus und Satzmodus auseinanderhalten muß: Trotz der unterschiedlichen Verbmodi ist der Satzmodus der gleiche, nämlich der einer Aufforderung.
Daß es sich bei dem sei in Mathesätzen nicht um einen Imperativ handelt und bei den Sätzen nicht um Aufforderungen, erkennt man an folgenden Merkmalen:
1. Es kann ein Vorfeld-es stehen.
Es sei x eine natürliche Zahl.
Es lebe der König!
*Es seien Sie so nett und bringen mir noch einen Kaffee.
*Es bleiben Sie sitzen!
2. Die Partikel doch kann nicht stehen.
*Sei x doch eine natürliche Zahl.
*Der König lebe doch hoch!
Seien Sie doch so nett und bringen mir noch einen Kaffee.
Bleiben Sie doch sitzen!
3. Die Aufforderung verlangt einen geeigneten Adressaten. Dieser ist das Subjekt. Bei einem Wunsch richtet man sich dagegen nicht unbedingt an das Subjekt. Im ersten der beiden folgenden Beispiele ist der Teufel nicht notwendigerweise als anwesend gedacht und nicht angesprochen.
Der Teufel hole ihn. (Konjunktiv, Wunsch, Teufel nicht Adressat)
≠ O Teufel, hol(e) ihn! (Imperativ, Aufforderung, Teufel Adressat)
Für mich ist es unvorstellbar, daß eine Variable angesprochen werden soll. Die Mathesätze gehören also in die gleiche Kategorie wie das erste Beispiel. In den Fällen, in denen mit dem Konjunktiv eine Aufforderung zum Ausdruck gebracht wird, ist das Subjekt der Adressat, anwesend und angesprochen:
Sei Er kein schellenlauter Tor!
Optativ? Jussiv?
Es gibt keinen Grund, einen der beiden Begriffe zur Beantwortung der Frage heranzuziehen. Das Indogermanische hatte den Optativ als Modus. Seine Funktion war, Wünsche auszudrücken. Daher liegt es dem historischen Sprachwissenschaftler nahe, von einer optativen Funktion des Konjunktivs zu sprechen, wenn er einen Wunsch ausdrückt. Man muß aber Modus und Funktion immer auseinanderhalten. Der Begriff Jussiv bezeichnet nur eine Funktion und keine Verbform.
Man kann das mit den Begriffen Genitiv (Form eines Nomens) vs. Genitivus subjectivus (eine Funktion des Genitivs) vergleichen.