Wenn eine Sprache über grammatische Geschlechter verfügt, hängen diese grammatischen Geschlechter nur sehr lose mit den biologischen Geschlechtern von Personen und anderen Lebewesen zusammen. Insbesondere hängt das grammatische Geschlecht vom Wort ab, das eine Sache bezeichnet, und nicht von der bezeichneten Sache selbst.
Ein gutes Beispiel sind die drei Wörter »Auto«, »Karre« und »Wagen«:
- das Auto (grammatisches Geschlecht: sächlich)
Ein Auto ist mehrspuriges Fahrzeug, das von einem Motor angetrieben wird und der Beförderung von Personen dient.
- die Karre (grammatisches Geschlecht: weiblich)
Eine Karre ist ursprünglich ein einfaches Gestell mit Rädern, ohne eigenen Antrieb, das verwendet wurde um Lasten zu transportieren. Das Wort wird aber auch verwendet, um schäbige alte Autos zu bezeichnen, die entweder gerade noch fahrtüchtig sind, oder die sogar schon so kaputt sind, dass sie gar nicht mehr verwendbar sind.
- der Wagen (grammatisches Geschlecht: männlich)
Ein Wagen war ursprünglich ein Fahrzeug, das von Pferden gezogen wurde, und mit dem Personen oder Lasten transportiert wurden. Dieses Wort wurde früher ganz allgemein als Synonym für »Auto« verwendet, heute bezeichnet man mit dem Wort »Wagen« aber eher größere Limousinen, also eher etwas teurere Autos.
Wenn nun ein großes Auto, das bei seiner Anschaffung sehr teuer war, 20 oder 30 Jahre lang nicht gepflegt wurde, und nun in einem so schlechten Zustand ist, dass es kaum noch fahrtüchtig ist, dann kann man dieses Fahrzeug mit allen drei Wörtern bezeichnen, und muss dafür unterschiedliche grammatische Geschlechter verwenden:
- Das Auto steht in der Garage. Es ist groß, alt und schäbig.
- Die Karre steht in der Garage. Sie ist groß, alt und schäbig.
- Der Wagen steht in der Garage. Er ist groß, alt und schäbig.
Beachte, dass in allen drei Sätzen von genau derselben Sache die Rede ist. Das grammatische Geschlecht hängt nicht von der Sache ab, sondern von dem Substantiv, das man verwendet um es zu benennen.
Das gilt auch für Personen!
Prinzipiell folgt das grammatische Geschlecht in den meisten Fällen schon dem biologischen Geschlecht. Das ist aber nur deswegen der Fall, weil die meisten Substantive, mit denen man Personen bezeichnet, üblicherweise ein grammatisches Geschlecht haben, das mit dem biologischen Geschlecht der Person übereinstimmt:
Substantive, die biologisch weibliche Personen bezeichnen:
- die Frau (grammatisch weiblich)
- die Dame (grammatisch weiblich)
- die Mutter (grammatisch weiblich)
- die Tochter (grammatisch weiblich)
Substantive, die biologisch männliche Personen bezeichnen:
- der Mann (grammatisch männlich)
- der Herr (grammatisch männlich)
- der Vater (grammatisch männlich)
- der Sohn (grammatisch männlich)
Die Regeln der Grammatik (welcher Artikel, welches Pronomen usw.) richten sich aber ausschließlich nach dem grammatischen Geschlecht dieses Substantivs. Das biologische Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Es gibt aber auch Wörter, die zur Bezeichnung von Personen verwendet werden, bei denen das grammatische Geschlecht des Wortes nicht mit dem biologischen Geschlecht der bezeichneten Person übereinstimmt:
Substantive, die biologisch weibliche Personen bezeichnen:
- das Mädchen (grammatisch sächlich)
Das Wort »Mädchen« ist ein Diminutiv, also ein Verkleinerungswort. Das erkennt man an der Endsilbe »-chen«. Alle deutschen Diminutive sind immer sächlich. Das ist eine der wenigen Regeln, für die es keine einzige Ausnahme gibt.
- das Weib (grammatisch sächlich)
Vom Wort »Weib« leitet sich das Adjektiv »weiblich« ab, trotzdem ist dieses Wort selbst sächlich.
- der Trampel (grammatisch männlich)
Das Wort »Trampel« ist ein in Österreich (möglicherweise auch in Bayern) geläufiges Schimpfwort, mit dem man besonders ungeschickte und gedankenlose Frauen bezeichnet. Es wird ausschließlich für Frauen und Mädchen verwendet, und ist trotzdem grammatisch männlich.
Substantive, die biologisch männliche Personen bezeichnen:
- die Tunte (grammatisch weiblich)
Bezeichnung für einen Mann, der entweder Frauenkleider trägt, oder sich sonst besonders weiblich verhält. Das Wort wird meist (aber nicht immer) abwertend verwendet.
Substantive, die sowohl für biologisch weibliche als auch männliche Personen verwendet werden können:
- das Baby (grammatisch sächlich)
- das Kind (grammatisch sächlich)
- die Person (grammatisch weiblich)
- das Genie (grammatisch sächlich)
Wie gesagt, richten sich die grammatischen Regeln nach dem grammatischen Geschlecht, nicht nach dem biologischen. Man kann ein und dieselbe Frau als »Frau«, »Weib« oder »Trampel« bezeichnen:
Schau dir diese Frau an! Sie macht alles kaputt!
Schau dir dieses Weib an! Es macht alles kaputt!
Schau dir diesen Trampel an! Er macht alles kaputt!
Aber natürlich auch der Klassiker:
Siehst du das Mädchen dort drüben? Es ist meine Tochter.
Eine wichtige Ausnahme
Zu ergänzen ist, dass es für Personen eine Ausnahme gibt, die früher (vor 50 oder 100 Jahren) noch eher selten verwendet wurde, heute aber durchaus üblich und somit korrekt ist:
Wenn ein sächliches oder männliches Wort verwendet wird um eine biologisch weibliche Person zu bezeichnen, darf man auch weibliche Pronomen verwenden. Folgende Sätze sind also ebenfalls korrekt (es gibt in diesen Fällen also zwei korrekte Möglichkeiten):
Schau dir dieses Weib an! Sie macht alles kaputt!
Schau dir diesen Trampel an! Sie macht alles kaputt!
Siehst du das Mädchen dort drüben? Sie ist meine Tochter.
Das gilt auch für biologisch männliche Personen:
Erkennen Sie die Person, die Sie überfallen hat? - Ja, es ist die zweite von links.
Erkennen Sie die Person, die Sie überfallen hat? - Ja, es ist der zweite von links.
Die Tunte trägt ein rosarotes Kleid. Sie fällt damit auf.
Die Tunte trägt ein rosarotes Kleid. Er fällt damit auf.
Ein ganz besonderes Beispiel: Das Heidi
Die Schweizerin Johanna Spyri (1827–1901) hat in den Jahren 1880 und 1881 die beiden Kinderbücher »Heidis Lehr- und Wanderjahre« und »Heidi kann brauchen, was es gelernt hat« geschrieben. Diese beiden Romane wurden 1974 von japanischen Zeichnern zur weltweit bekannten Zeichentrickserie »Heidi« verarbeitet, und sie wurden mittlerweile bereits zwölfmal verfilmt. Hier sind einige wörtlichen Zitate aus dem Roman:
- Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her.
- Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran ... Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum ...
- ... und das Heidi lief hintendrein, ... es konnte da nicht zurückbleiben.
- Da rannte das Heidi schnell wieder zurück ... und dann sprang es mitten in die davonziehende Herde hinein.
Das Heidi ist in beiden Romanen ganz konsequent immer sächlich, obwohl Heidi natürlich ein biologisch weibliches Kind ist. Aber Heidi ist eben ein Kind (das Kind = sächlich) bzw. ein fünfjähriges Mädchen (das Mädchen = sächlich). Und aus diesem Grund sind in fast allen Schweizer Dialekten die Namen kleiner Mädchen nicht weiblich, sondern sächlich. Und gerade in der Schweiz haben die Dialekte einen besonders großen Einfluss auf die Umgangssprache und somit auch auf die schweizerische Standardsprache.
Verlegt wurde der Roman übrigens in Gotha, im deutschen Thüringen, nahe der geographischen Mitte Deutschlands, vom Verlag Friedrich Andreas Perthes. Und auch dort hielt man es um 1880 offenbar noch für korrekt, »das Heidi« statt »die Heidi« zu schreiben.
Heute gilt das aber nicht mehr.
Aber sowohl heute wie damals gilt, dass das Geschlecht des Pronomens dem Geschlecht des Substantivs folgt. (Mit der oben erwähnten relativ jungen Ausnahme für Personen.)