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Seit welcher Zeit und warum wird im ge­spro­chenen Deutsch lieber Per­fekt anstatt Präteritum benutzt, z.B. lieber Ich habe gesehen als Ich sah? Warum hat sich die kompliziertere Form eingebürgert?

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  • 4
    Ich würde sagen, dass es sich durchgesetzt hat, weil es nicht die kompliziertere Form ist. Die Perfektbildung der einzelnen Verben unterscheidet sich kaum, wohingegen die Präteritumformen sehr unterschiedlich sind. Ich sah ist dafür ein gutes Beispiel.
    – hirse
    Commented Jul 19, 2013 at 7:16
  • 1
    D.h. zu konjugieren wird als komplizierter erachtet als 4 Silben mehr zu sprechen?
    – äüö
    Commented Jul 19, 2013 at 7:37
  • 1
    Ja, bilde doch als Übung mal das Präteritum und Perfekt von ableiten, backen, niesen und stecken
    – hirse
    Commented Jul 19, 2013 at 7:47
  • 1
    Ich denke nicht, dass einer der beiden Formen komplizierter ist. Wäre es so, würde die eine oder eben andere Form (fast) ganz aus dem Sprachgebrauch eliminiert. Aber dem ist nicht so. Beide sind durch aus häufig im Gebrauch. @hirse: Bei niesen ist das Perfekt schwerer: gießen ist gegossen, schießen ist geschossen, niesen (was sich gesprochen nicht unterscheidet) ist geniest. Bei ableiten ist das Perfekt scheinbar 'schwerer'. Bei backen das Präteritum (backte setzt sich neuerdings durch) und bei stecken sind beide 'normal einfach' (stak hab ich noch nie gehört im realen Gebrauch)
    – Em1
    Commented Jul 19, 2013 at 7:53
  • 1
    falkb, dich interessiert vllt dieser Artikel. Deine Frage wird dort zwar nicht beantwortet, aber dennoch interessant.
    – Em1
    Commented Jul 19, 2013 at 8:03

3 Answers 3

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In großen Teilen des deutschen Sprachgebiets wird ein -e am Wortende regelmäßig ausgelassen (Apokope), man sagt also beispielsweise ich fahr’ statt ich fahre oder müd’ statt müde. Nur in einem relativ schmalen Streifen vom Emsland nach Brandenburg ist das -e in den Dialekten erhalten.

Wo die Apokope durchgeführt ist, fällt bei schwachen Verben in der dritten Person Singular – eine der häufigsten Formen – das Präteritum mit dem Präsens zusammen: er sagter sagt’, sie schautsie schaut’. Damit taugt das Präteritum nicht mehr dazu, klarzumachen, daß von der Vergangenheit und nicht der Gegenwart die Rede ist, und man muß ausweichen. Hierfür bietet sich das Perfekt als weiteres Vergangenheitstempus an.

Bei den starken Verben (sie fährtsie fuhr) und in den anderen Personen (ich sag’ich sagt’) stellt sich das Problem eigentlich nicht. In einem großen Gebiet im Süden des deutschen Sprachraums hat sich das Perfekt aber auch dafür durchgesetzt und das Präteritum weitgehend verdrängt. Die Linie, bis zu der das passiert, heißt Präteritalgrenze und verläuft grob etwas nördlich von Mosel und Main. Es ist, wie immer, keine ganz scharfe Grenze – je weiter im Norden, desto eher gibt es noch Reste vom Präteritum. Nach Süden hin hält sich am besten noch war, vermutlich weil es so häufig gebraucht wird und von den Präsensformen klar zu unterscheiden ist.

In die Umgangssprache nördlich der Präteritalgrenze hat sich die allgemeine Verwendung des Perfekts erst in der jüngeren Vergangenheit ausgebreitet, wahrscheinlich durch die Massenmedien, wie auch Belles Lettres schreibt (Link von Em1).

Das Thema gab es übrigens neulich schon einmal: Präteritum of "sein" in Southern dialects Dort auch der Verweis auf den dtv-Atlas zur deutschen Sprache.

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  • Also Belles Lettres erwähnt nicht deine Erklärung. Stattdessen steht da, der Süden hat es sich wahrscheinlich aus dem Lateinischen abgekuckt: "... Ein Motiv für die Aufteilung zwischen Nord und Süd könnte im Lateinischen liegen. Dort ist das Perfekt das Tempus, in dem Vergangenes erzählt wird. ..." OK, warum sie das getan haben, ist auch nicht erklärt. Vielleicht aus den Gründen, die du genannt hast...
    – äüö
    Commented Jul 19, 2013 at 20:06
  • @falkb: Ich habe auch nicht behauptet, daß Belles Lettres diese Erklärung gibt. Ich habe behauptet, daß Belles Lettres die Ausbreitung nach Norden der jüngeren Vergangenheit und den Massenmedien zuschreibt, und das tut es: „Erst in den letz­ten Jahr­zehn­ten kol­li­dier­ten die beiden Sys­teme zum erstenmal durch die Mas­sen­kom­mu­ni­ka­tion. Das führte dazu, daß sich das Sys­tem des Sü­dens heu­te als Stan­dard durch­gesetzt hat.“
    – chirlu
    Commented Jul 19, 2013 at 20:13
  • Ist der Verwechslungsgrund bezüglich der weggelassenen e-Endung im dtv-Atlas als Fakt oder Theorie aufgeführt?
    – äüö
    Commented Jul 19, 2013 at 20:13
  • @falkb: „… wird in der Regel als direkte Folge der Apokope des e (vgl. S. 159) betrachtet.“
    – chirlu
    Commented Jul 19, 2013 at 20:16
  • 1
    @falkb: Über die Ursachen von Sprachwandel kann man immer nur Theorien aufstellen, da man die Beteiligten nicht mehr fragen kann; und selbst wenn, sie die Änderungen im allgemeinen nicht bewußt beschlossen (oder überhaupt wahrgenommen) haben. Die Einschätzung im dtv-Atlas bedeutet: Es ist die Theorie, die die Mehrzahl der Forscher für die plausibelste hält, aber nicht die einzige.
    – chirlu
    Commented Jul 19, 2013 at 20:28
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Ich verwende Perfekt aus zwei persönlichen Vorlieben:

  1. Die Verdeutlichung der Vergangenheit, da das Präteritum zu kurzfristig und teilweise unabgeschlossen klingt, ohne auf die ursprünglichen Aspekte der Nutzungsbedingungen zu achten. :)
  2. Die Verlängerung durch ein zweites Verb gibt mir die hervorragende Möglichkeit, Nebensätze (vor allem Attributsätze) einzufügen. Umhüllte Nebensätze finde ich schöner als die angehängten, da der zweite Teil zum Thema des Satzes zurückführt und ein mögliches Abschweifen minimiert.
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  • +1 für das Satzklammerargument
    – Emanuel
    Commented Jul 19, 2013 at 10:28
  • zu 1.) der Perfekt/Präteritum-Gebrauch im Deutschen hat aber nichts mit den Regeln zum entsprechenden Gebrauch im Englischen zu tun
    – äüö
    Commented Jul 19, 2013 at 12:01
  • 1
    Die Frage fragt explizit nicht nach den persönlichen Vorlieben, und eine kleine Anzahl von Leuten die aus diesen Gründen lieber das Perfekt verwendet, macht noch keinen Sprachgebrauch von ca. 100 Millionen Menschen.
    – Jan
    Commented Jul 23, 2015 at 16:13
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Das lässt sich einfach erklären. Im Lateinischen wird das Perfekt, nicht das Präteritum als Erzähltempus verwendet und durch das erneute Aufleben der lateinischen Sprache, gerade in unserem Sprachraum gegen 1513 durch die Bibelübersetzung setzte sich mehr und mehr das Perfekt durch. Ich benutze heute aber immer noch lieber das Präteritum.

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  • Ich glaube, du machst es dir zu einfach. Auch in England war das Lateinische (und das Französische) allgegenwärtig, und wurde erst durch Bibelübersetzungen vollständig verdrängt, trotzdem hat sich dort nie das Perfekt durchgesetzt, da es im Englischen eine Bedeutungsunterscheidung gibt. Demgegenüber hat das Französische drei Vergangenheitsformen, von denen zwei Bedeutungsgleich ist: ein zusammengesetztes Perfekt und ein Passé simple, die neben einer Imperfektform existieren. Das Passé simple müsste sich direkt aus dem Lateinischen ableiten lassen, warum hat es sich dann nicht durchgesetzt? …
    – Jan
    Commented Jul 23, 2015 at 12:06
  • … Luther hat in seiner Bibelübersetzung auch explizit »dem Volk aufs Maul geschaut«, und hätte demnach auf keinen Fall eine ungewohntere Form gewählt, nur um Analogie zum Lateinischen aufrechtzuerhalten. Zudem wimmelt es in der Bibel nur so von Präterita: »Und der Herr sprach« »Und es ward Abend, und es ward Morgen«, »Aber Adam antwortete und sprach«. Das lässt nur den Schluss zu, dass in Mittelthüringen im 16. Jahrhundert viel mehr Präteritum benutzt wurde als heute. Insgesamt: Quellen bitte, bis dahin –1.
    – Jan
    Commented Jul 23, 2015 at 12:09

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