Interessanterweise wurde im Raum Hannover, wie in ganz Norddeutschland, ursprünglich Niederdeutsch gesprochen, das sehr anders ist als die heutige Standardsprache. Es hat insbesondere die Umwandlung von langen Vokalen in Diphthonge und von stimmlosen Verschlußlauten in Affrikaten und dann teilweise weiter nicht mitgemacht. So heißt es im Niederdeutschen beispielsweise hus (Haus), appel (Apfel), water (Wasser), dat (das). So um 1400 herum war Hannover also weit, weit entfernt von dem, was heute Standardsprache ist.
Im 15. Jahrhundert begannen die norddeutschen Städte, sich an der Sprache des Südens zu orientieren. Die Leute – zuerst die städtischen Oberschichten – entschieden sich bewußt, ihr Niederdeutsch aufzugeben und fortan das Hochdeutsch der Südhälfte Deutschlands zu sprechen, das prestigeträchtiger war. Woher das Hochdeutsche im Norden plötzlich dieses Prestige gewann, läßt sich nicht definitiv sagen; wahrscheinlich hat die Wirtschaftsentwicklung dazu beigetragen (Niedergang der Hanse, Aufstieg von süddeutschen Handelszentren), aber auch die bedeutendere Literatur des hochdeutschen Sprachgebiets. – Hochdeutsch ist hier übrigens der Oberbegriff für mitteldeutsch und oberdeutsch, die beiden großen Dialektgruppen der Südhälfte des deutschen Sprachgebiets.
Jedenfalls war schon gegen 1470 das ursprünglich niederdeutsche Halle weitgehend zum Hochdeutschen (genauer Mitteldeutschen) übergegangen, ab 1510 wurde in der städtischen Verwaltung in Berlin für alle Schreiben in andere Städte nur noch Hochdeutsch verwendet. Die meisten großen norddeutschen Städte folgten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Bremen, Hamburg, Lüneburg, Stettin usw.). Anfänglich wurde das Niederdeutsche noch gesprochen, vor allem auf dem Land und in der städtischen Unterschicht, und zum Teil auch im internen Verwaltungsgebrauch geschrieben, aber zunehmend als unmodern und rückständig empfunden. Wer etwas auf sich hielt, sprach Hochdeutsch. In der Folge ist das Niederdeutsche bis zum 20. Jahrhundert in weiten Teilen Norddeutschlands praktisch ausgestorben, insbesondere in den Städten gibt es seit langem einfach kein Niederdeutsch mehr.
Die wenigsten von denen, die im Norden nun „Hochdeutsch“ statt Niederdeutsch sprachen, waren in Süddeutschland gewesen oder konnten Sprachunterricht in der heutigen Form nehmen. Der Austausch (auch zwischen den verschiedenen Regionen des mittel- und oberdeutschen Sprachgebiets) fand überwiegend schriftlich statt. Entsprechend entwickelte sich im vormals niederdeutschen Sprachgebiet eine spelling pronunciation: Man versuchte alles so auszusprechen, wie es geschrieben war, und verschiedene Zeichen auch mit verschiedenen Lauten wiederzugeben. Mit der „Originalaussprache“ hatte das oft wenig zu tun, beispielsweise waren praktisch im ganzen mittel- und oberdeutschen Gebiet ö und ü längst in der Aussprache mit e bzw. i zusammengefallen – wurden aber in der Schreibung noch unterschieden, und deshalb in Norddeutschland auch wieder in der Aussprache.
Erst ab dem späten 18. Jahrhundert gab es Bemühungen, ursprünglich vor allem für das Theater, die Aussprache zu vereinheitlichen und damit eine gesamt-deutsche Aussprache überhaupt erst zu schaffen. Dabei orientierte man sich letztlich an der Aussprache in Norddeutschland. Im Jahr 1898 veröffentlichte Theodor Siebs seine Deutsche Bühnenaussprache, die für viele Jahrzehnte die maßgebliche Aussprachenorm an Theatern und später im Tonfilm, Radio und Fernsehen blieb.
Nun rühmen sich die Hannöverschen tatsächlich gern, perfektes Hochdeutsch zu sprechen. Nach dieser Vorgeschichte ist das wenig überraschend: Ihre ursprünglich künstliche Aussprache des Hochdeutschen ist einfach zur Aussprachenorm erhoben worden. Wenn man allerdings genauer hinhört, stellt man fest, daß sie doch nicht so reden wie von Siebs und heute in der Standardsprache vorgesehen. Wie in ganz Norddeutschland spricht man im Raum Hannover kein /ɛː/, das ist mit /eː/ zusammengefallen: etwa Käse [ˈkeːzə]. Es gibt Wörter wie krökeln, die man im Rest des Landes nicht versteht, und im Umland (nicht unbedingt in Hannover selbst) wird teilweise das /ɪ/ vor /r/ gerundet (z.B. in Kirche). Von perfektem Hochdeutsch kann auch in und um Hannover also keine Rede sein. Man kann sogar sagen: Es gibt überhaupt keine Gegend in Deutschland, in der reine Standardsprache gesprochen wird.
Und Martin Luther? Mit Hannover hatte er nichts zu tun, er lebte etwa 150 Kilometer südöstlich, in Grenzgebiet von Nieder- und Mitteldeutsch. Er hat von 1483 bis 1546 gelebt, der erste Teil seiner Bibelübersetzung wurde 1522 veröffentlicht; zu diesem Zeitpunkt hatte das Niederdeutsche schon viel Boden verloren (siehe die Jahreszahlen oben), Luther hat die Entwicklung also nicht ausgelöst.
Zu diesen Fragen und überhaupt vielen Deutsch-Themen muß ich wieder einmal den dtv-Atlas zur deutschen Sprache empfehlen, der einen sehr kompakten Überblick über die Entwicklung der deutschen Sprache gibt.