Kurze Antworten:
Gab es den Vokativ als eigenständigen grammatischen Fall in einer Sprachstufe des Deutschen?
Nein
Wann ist der Vokativ als eigenständiger grammatischer Fall in der Linie der direkten Vorgängersprachen des Deutschen außer Gebrauch geraten?
Vermutlich im ersten Jahrtausend vor Christus, also rund 750 bis 1750 Jahre bevor es eine deutsche Sprache gab.
Woher kommt das e am Ende von Fauste im Satz »Nun, Fauste, träume fort, bis wir uns wiedersehn«?
Das kommt daher, dass Goethe den Rhythmus des Versmaßes in dem Gedicht erhalten wollte, und er am Ende von »Faust« noch eine unbetonte Silbe brauchte.
Der Herr der Ratten und der Mäuse,
Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse,
Befiehlt dir dich hervor zu wagen
Und diese Schwelle zu benagen,
So wie er sie mit Oel betupft –
Da kommst du schon hervorgehupft!
Nur frisch ans Werk! Die Spitze, die mich bannte,
Sie sitzt ganz vornen an der Kante.
Noch einen Biß, so ist’s geschehn. –
Nun Fauste träume fort, bis wir uns wiedersehn.
Ergänzung:
Der Vokativ existiert nach wie vor im Deutschen, jedoch nicht als grammatischer Fall sondern als Stilfigur. Hier sind Beispiele:
Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Sabine
O Tannenbaum
Lange Antwort
Den Vokativ gab es als eigenständigen Kasus sehr wahrscheinlich in der indogermanischen Ursprache, die der Vorläufer der europäischen und indoiranischen Sprachen ist. Deutsch ist eine dieser Nachfolgesprachen der indogermanischen Sprachen, daher ist nur die Frage zu klären, ob der Zeitpunkt, ab dem man einer Sprache den Namen »Deutsch« gibt, zeitlich vor oder nach dem Verschwinden des Vokativ als Kasus liegt.
Wenn man von der Gegenwart in die Vergangenheit geht, begegnet man diesen Sprachstufen:
- Neuhochdeutsch seit ca. 1650
- Frühneuhochdeutsch ca. 1350 - 1650
- Mittelhochdeutsch ca. 1050 - 1350
- Althochdeutsch ca. 750 - 1050
- Voralthochdeutsche Dialekte vor ca. 750
Die voralthochdeutschen Dialekte sind die Dialekte der Bajuwaren, Alemannen, Thüringer, Franken, Langobarden, usw., also jener Völker, die allesamt eine Form des Westgermanischen gesprochen haben, und aus deren Vereinigung die deutsche Sprache entstanden ist. Nachdem das Wort »deutsch« (damalige Form: »diutisc«, Bedeutung: zum Volk gehörend, das Volk betreffend) erst nach 750 in dieser Bedeutung verwendet wurde, zählen die voralthochdeutsche Dialekte nicht zu den Sprachstufen der deutschen Sprache, sondern sind in ihrer Gesamtheit eben eine nicht-deutsche Vorläufersprache des Deutschen.
Den Übergang von dieser Vorläufersprache zum Althochdeutschen kennzeichnet aber nicht das Auftauchen eines Wortes, das im modernen Deutsch zu »deutsch« geworden ist, sondern die zweite Lautverschiebung. Das war ein Prozess, der auch nicht über Nacht passierte, sondern rund 150 Jahre dauerte, und bei dem vor allem Konsonanten durch andere Konsonanten ersetzt wurden. Eine Veränderung im Kasus-System ging damit nicht einher. Schon die voralthochdeutschen Dialekte verwendeten dieselben vier grammatischen Fälle, die auch noch im modernen Deutsch existieren: Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Die Details des Gebrauchs dieser vier Fälle wiesen zwischen den verschiedenen Dialekten durchaus Unterschiede auf, aber es waren dieselben vier Fälle, und der Vokativ war da nicht darunter.
Die voralthochdeutschen Dialekte gehörten zum westlichen Zweig der urgermanischen Sprache. (Aus dem östlichen Zweig entstand Gotisch, das aber keine lebende Sprache mehr ist, und aus dem nördlichen Zweig entstanden die nordgermanischen Sprache, zu denen z.B. Dänisch und Schwedisch gehören).
Der Vorläufer der urgermanischen Sprache ist die prä-germanische Sprache. Diese Sprachstufe ist nicht nur nicht deutsch, sie zählt auch nicht zu den germanischen Sprachen. Die Entstehung der urgermanischen Sprache aus der prä-germanische Sprache ist die erste (germanische) Lautverschiebung, die vermutlich mehr als 500 Jahre lang gedauert hat und vermutlich die Zeit von ca. 500 v. Chr. bis ca. zur Zeitenwende in Anspruch nahm. Auch dieser Übergang manifestiert sich nicht an einem Wechsel des Kasussystems, was niucht bedeutet, dass kein Wechsel dieses Systems stattfand. Das ging allerdings sehr, sehr langsam vonstatten
In der prä-germanische Sprache gab es noch einen Vokativ, der wurde jedoch schon zur Zeit der ersten Lautverschiebung nur noch wenig verwendet. Der Vokativ brauchte vermutlich fast ein ganzes Jahrtausend, um sich in den Vorläuferstufen der deutschen Sprache von einem echten grammatischen Fall (mit eigener Kasus-Endung beim Substantiv) zu einer rhetorischen Form (ohne Markierung am Substantiv) zu wandeln, und das geschah lange Zeit bevor man das, was die Menschen damals sprachen, »Deutsch« nennen konnte. In anderen, nicht-germanischen Sprachen, die zeitgleich in Europa existierten, und die ebenfalls aus der indoeuropäischen Ursprache hervorgingen, konnte sich der Vokativ jedoch bis heute halten (viele slawische und baltische Sprachen).