Grund für die Unsicherheit
Wie Tofro schon gesagt hat, rührt die Unsicherheit wohl daher, dass das Wort andere in einigen Fällen klein geschrieben wird, wo man typische Adjektive gross schreibt:
- Nach Artikel und ohne Rückverweis auf vorangehendes Substantiv: die anderen (im Gegensatz zu: die Grossen)
- Nach Pronomen: jemand anderes (im Gegensatz zu: jemand Grosses)
Demgegenüber stehen Fälle, wo das Wort andere gross geschrieben wird (wie ein typisches Adjektiv in ähnlichen Fällen):
- der Andere (wie: der Fremde)
In solchen Fällen kann man wohl von einer besonders ausdrücklichen Verdinglichung sprechen, die eine Grossschreibung rechtfertigt (obwohl die Wörter weiterhin wie Adjektive deklinieren, vgl. starke Deklination von ein Anderer, ein Fremder).
Wortart von andere
Offensichtlich ist die Wortartzuteilung von andere nicht ganz klar – wie bereits in der Frage genannt, kann es als Adjektiv (Dudengrammatik) oder als Pronomen analysiert werden (Wiktionary). Interessanter als bloss anzugeben, welche Quellen welche Analyse bevorzugen, ist die Frage nach den Gründen für die eine oder andere Analyse.
In der Dudengrammatik wird das Wort andere zu den unbestimmten bzw. indefiniten Zahladjektiven gezählt. Für diese Analyse gibt es zwei Gründe:
- Die Deklination von andere ist adjektivisch.
- Im Gegensatz zu gewöhnlichen Adjektiven schwankt ein auf andere folgendes Adjektiv zwischen starker und schwacher Deklination.
Adjektivische Deklination
Adjektivische Deklination bedeutet, dass das Wort andere im Gegensatz zu einem Substantiv nicht nur nach Kasus und Numerus, sondern auch nach Genus und Definitheit dekliniert:
- Genus: andere Frau, anderer Mann, anderes Kind (wie: gute Frau, guter Mann, gutes Kind)
- Definitheit: Starke Deklination in anderes Glück/mit anderem Glück vs. schwache Deklination in dieses andere Glück/mit diesem anderen Glück (wie: gutes Glück/mit gutem Glück vs. dieses gute Glück/mit diesem guten Glück)
In Bezug auf die eigene Deklination verhält sich das Wort andere also wie ein Adjektiv.
Schwankende Deklination eines folgenden Adjektivs
Das Schwanken des auf andere folgenden Adjektivs zwischen starker und schwacher Deklination bedeutet, dass ein folgendes Adjektiv teils – wie nach einem typischen Adjektiv – stark, teils – wie nach Artikelwörtern – schwach dekliniert wird.
Schwache Deklination:
- unter anderem kleinen Privatbesitz (wie: unter diesem kleinen Privatbesitz, nicht wie: unter unbedeutendem kleinem Privatbesitz)
- anderm harmlosen Getier (wie: diesem harmlosen Getier, nicht wie: freundlichem harmlosem Getier)
Starke Deklination:
- anderes gedrucktes Material (wie: gutes gedrucktes Material, nicht wie: dieses gedruckte Material)
- in Gestalt anderer alter Damen (wie: in Gestalt guter alter Damen, nicht wie: in Gestalt dieser alten Damen)
Gemäss diesem Kriterium weicht andere von typischen Adjektiven ab. Es gesellt sich zu einer bestimmten Gruppe von Wörtern wie alle, keine, sämtliche usw., nach denen die Adjektive ebenfalls mit schwankender Deklination auftreten können.
Das Kriterium der schwankenden Deklination ist allerdings kein besonders solider Grund. Schliesslich ist auch bei typischen Adjektiven nicht ausgeschlossen, dass ein folgendes Adjektiv eine schwache Deklination aufweist, beispielsweise: unter unbedeutendem kleinen Privatbesitz statt: unter unbedeutendem kleinem Privatbesitz. Es handelt sich um eine relativ obskure Provinz der deutschen Grammatik, wo auch unter Muttersprachlern nicht immer Einigkeit besteht.
Indefinites Zahladjektiv vs. Indefinitpronomen
Ich habe auf die Schnelle in der Dudengrammatik keine Abgrenzung zwischen unbestimmten Zahladjektiven und Indefinitpronmen gefunden. Bezeichnenderweise tauchen einige Wörter in beiden Gruppen auf (alle, etliche, manche, mehrere, sämtliche), einige nur bei den unbestimmten Zahladjektiven (andere, beide, einige, et-/irgend-/welche, folgende, solche, viele, wenige) und wieder andere nur bei den Indefinitpronomen (ein bisschen/wenig/paar, einer, etwas, jeder/-mann/jedweder, jeglicher, jemand, niemand, kein, man, meinesgleichen, nichts, wer, was). Dies spricht dafür, dass ein klares Abgenzungskriterium fehlt – zumindest in der Dudengrammatik. Ein mögliches Abgrenzungskriterium wäre folgendes:
- Vor (attributivem) andere können Artikelwörter auftreten.
Dies äussert sich etwa wie folgt:
- andere Beispiele/die anderen Beispiele/diese anderen Beispiele (wie: viele Beispiele/die vielen Beispiele/diese vielen Beispiele, nicht wie: keine Beispiele/★die keinen Beispiele/★diese keinen Beispiele)
In dieser Hinsicht würde andere zur gleichen Gruppe gehören wie sämtliche, eine, beide, viele, wenige, aber zu einer anderen Gruppe als alle, einige, et-/irgend-/welche, keine, jede. Man könnte dann also erstere als indefinite Zahladjektive zählen, letztere als Indefinitpronomen.
Bei Wörter wie ein bisschen/wenig/paar, etwas, jedermann, jemand, niemand, man, meinesgleichen, nichts ist die Zuordnung zu den Indefinitpronomen übrigens klarer, denn sie haben keine (oder nur rudimentäre) Adjektivdeklination, und viele können auch nicht attributiv auftreten.