Der Satz
Nach dem Frühstück gehe ich spazieren und meine Mutter bleibt zu Hause.
ist grammatisch mehrdeutig hinsichtlich der Frage, ob die Zeitangabe nach dem Frühstück sich auch auf den zweiten Hauptsatz meine Mutter bleibt zu Hause bezieht (Lesart A) oder nicht (Lesart B). Die jeweiligen logischen Strukturen lassen sich durch Klammerung verdeutlichen:
- A: [[Nach dem Frühstück]: [[Ich gehe spazieren] und [meine
Mutter bleibt zu Hause]]]
- B: [[Nach dem Frühstück gehe ich spazieren] und [meine Mutter bleibt
zu Hause]]
Pragmatisch wird Lesart A dadurch stark gemacht, dass die beiden Verben spazieren gehen und zu Hause bleiben aus dem gleichen semantischen Feld stammen, und in diesem Feld konträr zueinander sind. Die Gricesche Konversationsmaxime der Relevanz ("Sage nichts, was nicht zum Thema gehört, wechsle nicht das Thema; Beachte den Gesprächskontext vorangegangener Kommunikation und das Vorwissen deines Kommunikationspartners.") legt nahe, dass dieser Zusammenhang nicht zufällig, sondern thematisch ist: Die Lesart A liegt nahe, da man davon ausgehen kann, dass die beiden Tätigkeiten miteinander verglichen werden sollen (und nicht der Umstand dass ich nach dem Frühstück spazieren gehe mit der kontextfreien Tatsache, dass meine Mutter -- grundsätzlich -- zu Hause bleibt.)
Syntaktisch ist allerdings zunächst Lesart B naheliegend, und Lesart A ist aus syntaktischer Sicht begründungsbedürftig. Das zeigt sich etwa am Vergleichssatz
Nach dem Frühstück gehe ich spazieren und meine Mutter ist eine freundliche Frau.
Syntaktisch ist der Vergleichssatz analog zum Ausgangssatz. Da aber die pragmatischen Argumente für Lesart A im Vergleichssatz wegfallen, scheint hier nur noch B richtig zu sein.
Damit A syntaktisch gefordert wäre, würde man wohl
?? Nach dem Frühstück gehe ich spazieren und bleibt meine Mutter zu Hause.
sagen müssen. Dies scheint mir aber eine ungrammatische oder zumindest sehr unübliche Wortreihenfolge, eine Inversion, zu sein.
Die Ambiguität (Zweideutigkeit) wird auf der grammatischen Ebene zunächst dadurch bedingt, dass [meine Mutter bleibt zu Hause] sowohl als einfaches Präsens oder auch als futurisches Präsens gelesen werden kann.
Diese Ambiguität wird zudem dadurch verstärkt, dass es für beide Lesarten jeweils vereindeutigende Sätze gäbe, die nicht komplizierter wären. Für Lesart B wäre eine Umstellung der beiden Hauptsätze vereindeutigend:
Meine Mutter bleibt zu Hause und ich gehe nach dem Frühstück spazieren.
Auch die Verwendung eines Adverbs im zweiten Hauptsatz, das die etwaige Bedeutung von nach dem Frühstück entwertet, würde vereindeutigend wirken:
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren und meine Mutter bleibt gern zu Hause.
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren und meine Mutter bleibt immer zu Hause.
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren und meine Mutter bleibt seit Jahren nur noch zu Hause.
Für Lesart A
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren, wohingegen meine Mutter zu Hause bleibt.
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren, während meine Mutter zu Hause bleibt.
oder mit der gebräuchlicheren Konjunktion aber
Ich gehe nach dem Frühstück spazieren, aber meine Mutter bleibt zu Hause.
oder auch durch Verwendung des Futurs anstelle des futurischen Präsens:
Ich werde nach dem Frühstück spazieren gehen, aber meine Mutter wird zu Hause bleiben.
Dass keine dieser paradigmatischen Varianten gewählt wird, lädt die Ambiguität zusätzlich auf. Pragmatisch wird eine Disambiguisierung (Vereindeutigung) durch den Kontext hergestellt werden, wenn Eindeutigkeit notwendig für das Verständnis des Gemeinten ist. Ohne weiteres würde ich wegen der genannten Griceschen Maxime und der semantischen Beziehung der Prädikate der Hauptsätze von Lesart A ausgehen.