Wenn ein Kleinkind seine Muttersprache lernt, lernt es keine Regeln. Es hat keine Vorstellung von grammatikalischen Geschlechtern, weiß nichts von Beugung und kennt nicht mal die einfachsten Regeln für den Satzbau.
Mit der Zeit lernt es sprechen, so wie es auch gehen lernt. Fast kein Erwachsener kann einem anderen Erwachsenen detailliert erklären, wie man geht. Wir alle tun es, ohne uns über die genau aufeinander abgestimmte Reihenfolge der verschiedenen Muskelkontraktionen Gedanken zu machen. Die meisten von uns wissen nicht mal, wie die Muskeln heißen, die wir beim Gehen benutzen. Und trotzdem können wir es fast alle fast perfekt.
Auf ganz genau dieselbe Weise lernen Kinder auch ihre Muttersprache. An ihrem ersten Schultag können sie perfekt Fragesätze bilden. Konditionalsätze sind auch kein Problem, und dasselbe gilt im Fall von Sprachen mit Nominalklassen für die Zuordnung der Nomen zur richtigen Nominalklasse (Deutsch kennt die drei Nominalklassen "männlich", "weiblich" und "sächlich"; andere Sprachen wie z. B. Suaheli kennen bisweilen mehr als 20 solcher Kategorien.)
Deutschsprachige Muttersprachler lernen also die Artikel ebenso mühelos wie alles andere, was zu ihrer Sprache gehört, aber ohne dafür auch nur eine einzige Regel zu kennen. (Ungarische Schulanfänger beherrschen alle ca. 30 Fälle der ungarischen Sprache, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es so etwas wie Fälle überhaupt gibt.)
Da die Regeln für die Bestimmung des grammatischen Geschlechts auch nicht Teil des gewöhnlichen Deutschunterrichts sind, kann auch kaum jemand, der Deutsch als Muttersprache spricht, diese Regeln nennen. Oft sind wir Muttersprachler überrascht, wenn wir von einer solchen Regel hören und dann erstaunt feststellen, dass sie tatsächlich funktioniert. (Meist suchen wir dann minutenlang nach Ausnahmen, bis wir entweder triumphierend welche finden oder erstaunt und trotzdem zweifelnd die Regel zur Kenntnis nehmen.)
Wenn wir erwachsen sind, müssen wir das, was wir als Kinder ganz nebenbei gemacht haben, wieder machen, wenn wir neue Wörter lernen. Wir müssen zu jedem neuen Nomen, das sich in unserem Wortschatz einnistet, den richtigen Artikel dazulernen. Und weil wir Muttersprachler (fast) keine Regeln zur Geschlechtsbestimmung kennen, können wir ohne Vorgabe nur raten, welcher Artikel richtig sein könnte.
Nachtrag (Edit)
In diesem Zusammenhang (und ergänzend zur Antwort von Ingmar) ist auch erwähnenswert, dass die impliziten Regeln, nach denen wir Muttersprachler neuen Nomen einen Artikel zuweisen, nicht im gesamten deutschen Sprachraum einheitlich sind. Während beispielsweise die Namen von Softdrinks und Zeitschriften in Deutschland weiblich sind ("die Cola", "die Fanta"; "die Bravo") sind diese Namen in Österreich allesamt sächlich ("das Cola", "das Fanta"; "das Bravo").
In weiterer Folge führt das dazu, dass es Nomen gibt, die mehrere Artikel haben können, weil in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Artikel vergeben wurden, die sich dann im Laufe der Zeit über den ganzen deutschen Sprachraum ausbreiten: "der/das Radio", "der/das Teller", "die/das E-Mail", "der/die Abscheu", "der/das Keks", "die/das Aspirin", "der/das Filter", "der/das Gummi", "der/die Paprika", "der/die Sellerie", "der/die Firewall", …