Welche Funktion hat der Genitiv in "der Alltag vieler Menschen"?
Fällt dieser Genitiv unter den possessiven Gebrauch, obwohl man den Alltag nicht besitzt?
Na ja, ich besitze meinen Alltag schon, in dem Sinne, dass nur ich ihn habe, sonst niemand. Schon im Lateinischen hat possedere diese ungegenständliche Bedeutung: possedit favorem plebis Clodius "Clodius hat den Zuspruch des Volkes" (Ovid). Insofern meint "possessiv" nicht nur physischen Besitz, sondern auch ideellen. Anders gesagt, der Genitiv in "der Alltag vieler Menschen" drückt einen Besitz aus.
Beispiele für genitivus possessivus im Lateinischen, in denen kein Besitz ausgedrückt wird:
patria Marci Tullii "die Heimat des M. Tullius" (Marcus besitzt seine Heimat nicht)
natura loci "die Beschaffenheit des Ortes" (der Ort besitzt seine Beschaffenheit nicht)
Hoc vitium est proprium discipulorum. "Dieser Fehler ist typisch für Schüler." (die Schüler besitzen den Fehler nicht
meum vestrum est "es ist meine Pflicht" (ich besitze die Pflicht nicht)
Ja, die possessive Funktion drückt regelmäßig auch bloße Assoziation, Einbettung etc. aus. Sie ist ebensowenig auf wahren Besitz beschränkt wie etwa der Akkusativ auf das Anklagen. Die ursprüngliche lateinische Bedeutung ist also heute irreführend.
'Possessiv' ist eine irreführende Bezeichnung für eine Zuordnungsbeziehung. In
mein Alltag hat sich mit dem Baby sehr verändert
ist das traditionell als Possessivpronomen bezeichnete mein weder possessiv (besitz-bezeichnend) noch ein Pronomen ('Stellvertreterwort' für ein Nomen, denn das Nomen Alltag ist ja noch da). Das korrespondierende Pronomen gibt es in
Welches Auto nehmen wir heute? - Meins.
Aus Vereinfachungsgründen wird an der Bezeichnung 'possessiv' in den Grammatiken fast durchgängig festgehalten, denn die tatsächlich possessive Bedeutung der entsprechenden Artikel(wörter) / Determinanten / Begleiter und Pronomen und Genitive schiebt sich wie selbstverständlich sofort ins Bewusstsein, wenn man diese Wörter und Konstruktionen benutzt. Als kleine Kinder haben wir wahrscheinlich schon im Sandkasten gelernt, was 'mein Förmchen' ist und was passiert, wenn ich dem anderen 'sein Förmchen' wegnehme.
In gewisser Hinsicht ist die Bezeichnung possessiv für die andern Verwendungsweisen von Possessiva, die Hubert Schölnast nennt, metaphorisch: In jedem Fall stehen die possessiv angebundenen Wörter in einem engen inhaltlichen Bezug zu ihrem grammatischen Bezugswort.
In der Phrase »der Alltag vieler Menschen« liegt ein Genitivus explicativus (Genitiv der Erklärung) vor.
»Genitiv« ist der Name einer Klasse bestimmter grammatischer Konstruktionen (Genitivattribut als Links- oder Rechtsattribut, Genitivobjekt), diese Konstruktionen können aber für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden.
Der Genitiv wird für diese Zwecke eingesetzt:
das Haus des Bürgermeisters
Ottos Schuhe
Beethovens neunte Symphonie
Christines Dissertation
ein Ticket zweiter Klasse
eine Frau jüngeren Alters
die Hälfte des Kuchens
Die Mehrheit der Wähler
der Norden des Kontinents
der älteste Sohn der Familie
der Rat eines Freundes
Das Denken des Menschen
die Bestrafung des Diebs
die Zerlegung des Motors
Die Quelle der Hoffnung
Der Sinn des Lebens
Das Laster der Trunksucht
Das Verbrechen des Mordes
das Buch der Bücher
der König der Könige
Ludwig wird des Mordes bezichtigt.
Irene wird der Helerei verdächtigt.
Ob
a) "Der Alltag vieler Menschen ist (zu hektisch)"
oder
b) "Der Alltag ist vielen Menschen (zu unübersichtlich)"
macht nur einen geringen Unterschied. Regiert wird der Fall im Beispiel nicht.
c) "Der Menschen Alltag"
ist theoretisch auch zulässig (vgl. "Der Mode letzter Schrei") und verdeutlicht anschaulich dass Mensch eigentlich vordergründig so wie nominativ steht.
Dar in (c) noch die Quantität "viel" unterzubringen ist durch einfache Umformung der Wortfolge (a) nicht zu erreichen.
d) Vieler Menschen Alltag
verdeutlicht, dass viel eigentlich Determinativ ist.
Da Alltag unzählbar ist, bleibt offen, ob jeder seinen eigenen Anteil besitzt, Ihn sich teilen muss, oder ob, sofern "Alltag" als grammatisches Subjekt erkannt wird, etwa "Vieler Menschen" Attribut ist und dieses "vieler" wie bspw. "voller" (ein Käfig voller Helden) sein möge; eigentlich Präposition, die Aktionsart (Aspekt des Verbs).
Erschwerend kommt hinzu, dass auch prinzipiel zählbare nomina in ähnlich gearteten Phrasen unzählbar verwendet werden (das Gehalt vieler Menschen, oder die Gehälter), da nämlich many-to-many Relationen in der deutschen Grundsprache so nicht vorgesehen sind, so dass die Besitzanzeige regelmäßig offen bleibt und aus dem Kontext erschlossen werden muss (die Nebeneinkünfte von Politikern). Die Obermenge, die Summe aller Einzelteile, wird auf der syntaktischen Ebene unspezifisch, beliebig verteilbar.
Deine Frage wäre also im Ergebnis pragmatisch allenfalls philosophisch zu handhaben, aber nicht hier.