Kann man das machen?
Ja. Diese Art des kreativen Sprachgebrauchs ist möglich. Beispiele sind vor allem in der Dichtung anzutreffen. Spontan fallen mir zwei Gedichte von Erich Fried ein, dessen Werk besonders durch kreative Sprachverwendung gekennzeichnet ist. Erstens das Gedicht Erstickübung:
Tief denken
eindenken
ausdenken
jetzt nur mehr flach denken
Flach eindenken
ausdenken
eindenken
jetzt nicht mehr ausdenken
schön stillhalten
so bleiben
überhaupt nicht mehr
denken
oder nur
an etwas ganz anderes
Das Gedicht spielt mit einer sehr einfach erkennbaren und klar markierten Analogie von denken und atmen, sodass sich die Bedeutung der Verben eindenken (das es so nicht gibt) und ausdenken (das eine andere Bedeutung hat) leicht erklärt.
Ein zweites Beispiel für die kreative Verwendung von Präfixen, ebenfalls von Erich Fried, ist das Gedicht Verstandsaufnahme, in welchem Fried konsequent die Präfixe be- und ver- vertauscht und damit erzielt, dass die Bedeutung der jeweiligen Verben aktualisiert wird - man liest diese Verben dann so, als würde man sie zum ersten Mal lesen. Auch ergeben sich bedeutungstragende Spannungen wenn die Variante mit vertauschtem Präfix sinntragend ist - etwa, weil das Verb mit dem anderen Präfix tatsächlich existiert (etwa in Beschwörer statt Verschwörer, oder bei verkannt statt bekannt) oder existieren könnte, etwa be verschützen (statt beschützen), Bezicht (statt Verzicht, Assoziationen zu bezichtigen liegen nahe), Haftverfehle (statt Haftbefehle; ein Haftverfehl kann wohl als ein "verfehlter Haftbefehl" gedeutet werden) oder Verleidigung statt Beleidigung oder, in der prominenten Schlussphrase verjahen oder beneinen.
Der Befassungsschutz verschützt die Versitzenden vor denen, die den Verhörden als bestockte Beschwörer verkannt sind, weil sie eine Beänderung der Lebensverdingungen wollen durch die Bewandlung der Produktionsbehältnisse. Ein wohlverstallter Veramtenapparat leistet Bezicht auf eigenes kritisches Denken die Herrschenden aber halten Verratungen ab, wie sie die Verherrschten davon abhalten können sich verdrückt und um ihr Leben vertrogen zu fühlen. Ein Heer von Bedummern will sie zur Selbstverherrschung erziehen und verarbeitet zu diesem Zweck die Normalbebraucher mit Verschwichtigungen und mit Betröstungen. Aber seht die Behafteten und ihre verwaffneten Verwacher und was die Gerichte bezapfen, vor die man sie stellt. Seht euch
die Verweisbefahren an, die Haftverfehle und die Bestöße gegen das Grundrecht, seht die Verleidigung der Würde des Menschen und fragt euch dann ob ihr das verjahen wollt oder beneint.
(Die Zeilenumbrüche des Originals habe ich gestrichen, weil mir gerade keine Originalausgabe vorliegt.)
Ist es klug?
Kreative Sprachverwendung birgt immer ein erhöhtes Risiko von Missverständnissen. Man sollte das machen, wenn man sich gut mit der Sprache auskennt, und wenn man vorhersagen kann, wie die eigene Wortschöpfung verstanden werden wird. Dieses Risiko ist bei der kreativen Verwendung von Präfixen besonders hoch, weil sich die Bedeutung eines Verbs mit Präfix sehr häufig nicht zurückführen lässt auf ein Modell "Bedeutung des Stammverbes plus Modifikation durch Präfix". Betrachte als ein schlagendes Beispiel dafür den Präfix ver- und einige Verben:
- sich vergehen
- vergessen
- verzeihen
- vermessen (ein Stück Land)
- sich vermessen
- verwechseln
- verbrennen
- versinnbildlichen
- etc.
Manche Präfixe haben eine derartige Varianz von Funktionen, dass man nicht von einer festen Funktion des Präfix sprechen kann.