Hier folgt eine kritische Diskussion des Begriffs "Rotwelsch" beziehungsweise seiner unvorsichtigen Verwendung.
"Rotwelsch" wird in der (meist: sprachwissenschaflichen oder jedenfalls sprachbetrachterischen) Literatur des deutschsprachigen Raums traditionell (v.a. seit dem 19. Jahrhundert) als ein Begriff verwendet, um eine Reihe sprachlicher Ausdrucksformen (v.a. auf der lexikalischen Ebene) bestimmter (historischer) Bevölkerungsgruppen niedrigen sozialen Status' zu bezeichnen.
Der Begriff selbst ist seit der frühen Neuzeit dokumentiert (siehe Literaturliste unten mit einer Publikation von 1528).
In der Praxis geht es vor allem um die Sammlungen von Wörtern, die bestimmte Bevölkerungsgruppen abweichend vom standardsprachlichen Gebrauch verwendeten.
Der Begriff ist aus mehreren Gründen problematisch.
Erstens ist er eine Außenbezeichnung. Keiner jener Leute, die Ausdrucksformen benutzten, die andere (aus der sozial dominierenden Bildungsschicht) als "Rotwelsch" bezeichneten, wäre von sich aus auf den Gedanken gekommen zu sagen: "Ich spreche Rotwelsch."
Zweitens ist er eine Übergeneralisierung. Er wirft Dinge in einen Topf, die nicht in einen Topf gehören. Was in der Literatur (insbesondere des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) als "Rotwelsch" bezeichnet wird, ist eigentlich eine Sammlung von Wörtern aus nicht-standardsprachlichen Ausdrucksformen verschiedenster (üblicherweise "bildungsferner") Bevölkerungsgruppen. Das alles zusammenzuwerfen zu einem "Rotwelschen" und damit zu behaupten, dieses bilde eine irgendwie geschlossene Einheit, führt in die Irre. Es wird eine sprachliche Entität behauptet, die außerhalb von Wörterbüchern und sprachbetrachterischen Traktaten gar nicht existiert(e).
Das verbindende Element zwischen den Soziolekten, auf die sich Sammlungen des "Rotwelschen" beziehen, ist der niedrige soziale Status oder Außenseiterstatus (man könnte auch Paria-Status sagen) der entsprechenden Träger dieser Sprachpraxen. Damit gerät man bei gedankenloser Verwendung des Begriffs "Rotwelsch" in die Gefahr, eine sozialen Ausgrenzung zu betreiben, in die sich schnell auch rassistische oder sonstwie diskriminatorische Motive mischen können.
Die Assoziation mit bestimmten, negativ gesehenen Bevölkerungsgruppen zeigt sich darin, dass in praktisch jeder Abhandlung über "Rotwelsch" zur Erklärung sogleich der Begriff "Gaunersprache" genannt wird. Weiter wird dann gerne erklärt, "Rotwelsch" sei "die Sprache der Bettler, Diebe und Gauner". So heißt es in der Vorrede zu Jacob Grimms Wörterbuch der Deutschen Sprache (1854):
"Die bunt gemischte, doch manche deutschen Bestandteile
in sich haltende rotwelsche Sprache oder die der Bettler, Diebe und Gauner hat man vielfach und in neuer Zeit am genügendsten gesammelt."
Und auch Roland Girtler nennt sein 1998 erschienenes Buch
Rotwelsch. Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden.
Wobei in den konkreten Sammlungen solche Ausdrucksformen (es sind aus historischer Zeit verschiedene Wortlisten bekannt, die von verschiedenen Sprachforschern oder Volkskundlern gesammelt wurden) dann realiter sehr viel jiddische oder "zigeunerische" (das ist ein Zitat aus einem solchen Werk) Wörter enthalten sind, daneben aber auch slawische und verschiedene dialektale.
Es werden also Sprechgewohnheiten oder Sonderwortschätze völlig unterschiedlicher (aber stets sozial niedrig eingestufter) Bevölkerungsgruppen in einen Topf geworden. Indem man diesem Sammelsurium dann den Namen "Rotwelsch" gibt, erzeugt man beim Orientierung suchenden Leser den Eindruck, "Rotwelsch" sei eine "Sprache" in dem Sinne wie "Englisch" oder "Deutsch" eine Sprache sind.
Die "Übersetzung" des Begriffs "Rotwelsch" mit "Gaunersprache", die vielen Lesern dann ausreicht im Sinne von "Ach so, ja, jetzt verstehe ich, was Rotwelsch ist" krankt dann weiter daran, dass unklar ist, was "Gauner" eigentlich sein sollen. Die meisten Nutzer der deutschen Sprache werden zwar ein ungefähres Bild haben, was für sie ein "Gauner" wäre (z.B. ein dem Gewerbe des Betrugs nachgehender Mensch, oder vielleicht auch einfach nur ein Obdachloser), aber für eine wissenschaftliche Definition einer Sprache oder Subform einer Sprache ist diese nebulöse soziale Klassifizierung ungeeignet.
Nachtrag
Dieser Beitrag nimmt bewusst eine kritische Haltung ein gegenüber einer verbreiteten, leichtfertigen Verwendung des Begriffs "Rotwelsch". Er soll nicht infrage stellen, dass es möglicherweise zu bestimmten Zeiten im deutschsprachigen Raum einen Sonderwortschatz (oder mehrere Sonderwortschätze) von nicht sesshaften Mitgliedern der Gesamtbevölkerung gegeben haben kann. Die Kritik richtet sich gegen die oft allzu schnell gegebene Erklärung "Das ist ein Ausdruck aus dem Rotwelschen", wie sie bei bestimmen Wörtern gerne gegeben wird, nicht zuletzt auch in diesem schönen Forum. Hebräische, slawische und andere Ausdrücke können auch direkt von den Herkunftssprachen in bestimmte deutsche Soziolekte übernommen worden sein. So war zum Beispiel bei Bauern in Teilen Oberschwabens das Zählen auf Hebräisch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt und beliebt - nämlich dort, wo der Viehhandel verbreiteterweise in der Hand jüdischer Händler aus den Gemeinden der Umgebung lag. Ein Zwischenschritt über "das Rotwelsche" muss hier nicht angenommen werden.
Literatur
Eine bekannte, große Sammlung ist: Sigmund A. Wolf: Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen. Bibliographisches Institut + Brockhaus, 1956. Im Vorwort sind auch die verschiedenen Vorgängersammlungen genannt, auf die sich dieses Kompendium bezieht.
Eine beliebte frühe Quelle ist: Actenmäßige Nachricht von einer zahlreichen Diebs-Bande, welche von einem zu Hildburghausen in gefänglicher Hafft sitzenden mitschuldigen jungen Dieb entdecket worden nebst einem Anhang aus denen wider die Anno 1745. allhier hingerichtete Gaudiebe Johann Georg Schwartzmüller und Friedrich Werner verführten Inquisitions-Actis, auch vermehrtes Verzeichniß vorgekommener Wörter von der Spitzbuben-Sprache; Ingleichen: angehängte kurtze Nachricht von der neuentdeckten Diebs-Bande in Chur-Sachsen, von 1745. Das 56seitige Werk ist z.B. in der Universitätsbibliothek Tübingen zu finden, interessanterweise unter der Autorenbezeichnung Schwartzmüller, Johann Georg; Werner, Friedrich
Noch früher verwenden Martin Luther und Mathias Hüttlin den Begriff: Von der falschen Betler buberey Vnd hinden an ein Rotwelsch Vocabularius, daraus man die woerter, so yn diesem buechlin gebraucht, verstehen kan, publiziert 1528 in Wittenberg ["Wittemberg"]. 24 Seiten.
Eine modernere Darstellung findet man vom Soziologen Roland Girtler: Rotwelsch. Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden. Wien, Köln, Weimar (Böhlau-Verlag) 1998, und spätere Neuauflagen. - Hier wird die Behauptung vertreten, dass das "Rotwelsche" bei "Stadtstreichern, Ganoven und Dirnen" auch heute in Gebrauch sei. Was vielleicht ein bisschen weit hergeholt ist, außer man bezeichnet eben jede deutsche Sprachform sozialer Randgruppen als "Rotwelsch". Interessant ist, dass der Autor sich unter anderem auf seine Kontakte und Studienbesuche in der Wiener Rotlichtszene stützt. Das Buch ist amüsant, aber ich finde es extrem unwissenschaftlich. Es fehlt jegliche Reflektion über den Begriff "Rotwelsch" und seinen realweltlichen Referenzpunkt. Vielmehr wird wie so oft einfach hingenommen, dass es ein "Rotwelsch" gebe, und dann werden mehr oder weniger belegbare Geschichten darumherumformuliert. Gleichwohl setzt der Autor das Wort "Rotwelsch" durchweg in Gänsefüßchen, als wolle er sich heimlich dann doch davon distanzieren.